05 Jan

Bindung ist bunt

Ich sitze am Schreibtisch und lasse ein Gespräch Revue passieren, das ich gerade online geführt habe. Es war richtig gut. Ich war neugierig und ein bisschen aufgeregt hineingegangen, ohne klare Erwartungen an die Antworten im Interview zu haben. Und nun habe ich wirklich das Gefühl, meine Interviewpartnerin war nicht nur interessant, sympathisch und offen, sondern auch eine der reflektiertesten Elternpersonen, mit der ich je gesprochen habe. Denn tatsächlich hat mich besonders beeindruckt, wie überlegt sie in ihre Elternschaft gestartet ist. Das erlebe ich in meinen Beratungen häufig sehr anders und kenne es auch von mir selbst: Elternwerden ohne konkrete Vorstellungen. „Wird sich schon alles finden!“ Das kann gut gehen oder auch nicht.

Bei meiner Interviewpartnerin Maya stand vorher ziemlich viel fest, und das erweist sich im Alltag nun als Gewinn für alle Beteiligten und sicher auch als Plus für die Bindungssicherheit ihres Kindes.

 

Bindungsstarkes Aufwachsen

Maya geht offen damit um, dass sie trans Frau ist und mit zwei weiteren Frauen namens Anna und Jo(hanna) zusammenlebt. Außerdem gehören zu ihrer Kernfamilie ihr zurzeit 4-jähriges „Löwenkind“ und die 8-jährige „Kletterfee“, das Kind von Anna, das im Wechselmodell lebt. Dazu gibt es noch eine weitere Person, die samt ebenfalls 8-jährigem Kind (auch im Wechselmodell) mit in diesem Haushalt lebt, so dass mal ein, mal zwei und mal drei Kinder im Haus sind.

Außerdem erzählt Maya mir von ihrer erweiterten Familie – bestehend aus den verschiedenen Partnerpersonen, die ein großes Beziehungsgeflecht bilden, und den Großeltern – sowie von Wahlverwandschaft und engen Freundschaften. Gerade letztere haben sich in der Coronazeit teilweise noch intensiviert. Maya nutzt hier das Wort „Polykül“, um das Beziehungsnetz der Erwachsenen zu benennen, sowie den wunderschönen Begriff „Herdenkinder“ für alle kleinen Menschen, die besonders in Lockdownphasen ohne Kindergarten und Schule eine wichtige Gemeinschaft gebildet haben.

Alle diese Personen haben eigene Beziehungen zu einander und zu den Kindern und sind wichtige, akzeptierte Bezugspersonen vor allem für das 4-jährige Kind. Dieses Netz trägt es durch den Alltag. Irgendjemand ist immer da, und eigentlich ist niemand davon „irgendjemand“. Dieser Aufbau macht ein bindungsstarkes Familienleben leicht, denn

  • die Kinder haben immer jemanden, den sie ansprechen können, und lernen unterschiedliche Menschen und damit auch verschiedene Arten von Beziehung, Kommunikation, Miteinander kennen.
  • die Erwachsenen haben Raum für sich, so dass sie in den Zeiten, in denen sie für ein Kind zuständig sind, auch wirklich kraftvoll und feinfühlig Elternperson sein können. Denn: „You can’t pour from an empty cup.“

Letzteres war von Anfang an schon vor der Geburt des Löwenkindes der Plan: Familie und Verbindung, aber mit Platz für jedes Individuum, seine Wünsche und seine Selbstfürsorge.

 

Geschlechtsoffenes Aufwachsen

Die zweite, für mich interessante Thematik für das Aufwachsen in dieser Familie neben dem guten Netz aus Bezugspersonen ist ein geschlechtsoffenes Aufwachsen. Für viele Eltern ist das ein spannender Bereich, indem noch viel Raum ist, um als Eltern zu lernen und die Gesellschaft zu verändern (Buchtipp: „Was wird es denn? Ein Kind! – Wie geschlechtsoffene Erziehung gelingt“ von Ravna Marin Siever, Beltz Verlag, Erscheinungsdatum: 09.03.2021 ) – für Mayas Familie ist es Alltag und fällt nicht schwer. Maya selbst durfte so nicht groß werden, und so kam es erst sehr spät zu ihrem Outing als trans Frau den eigenen Eltern gegenüber. Das Löwenkind soll einen anderen Weg gehen dürfen.

Beim Erzählen darüber spüre ich sofort, dass diverse Vorurteile von Kritikern dieses Weges hier nicht zutreffen: Ich spüre keine Kampfeslust, kein Abwerten anderer Wege, keine agressive Art bei Maya. Überhaupt nicht! Sie versucht nicht, andere auch auf diesen Weg zu bringen, sondern ist ganz bei sich. Wenn sich jemand von diesem Weg angegriffen fühlen sollte, liegt das sicher nicht an Familien wie dieser, sondern oft an den Kritikern selbst und ihren Ängsten. Diese Familie hier lebt das einfach, und ich spüre, wie gut und im Grunde logisch sich das anfühlt.

Was bedeutet das im Alltag? Das Löwenkind geht nicht auf die Kategorien Junge oder Mädchen ein, sondern sagt von sich selbst, es sei ein Kind. Es darf spielen und leben mit Namen und Pronomen, die ihm gefallen. Schon als es als Baby bei Maya oder den anderen Bezugspersonen vorm Bauch in der Trage war und fremde Menschen im ÖPNV spätestens mit der zweiten Frage aus den binären Möglichkeiten das Geschlecht wissen wollten, spielten sie und auch die anderen beiden Elternteile mit den gesellschaftlichen Erwartungen: Sie wählten grundsätzlich das zweite aus, was die Leute sagten: „Ist es ein Junge oder ein Mädchen?“ – Ein Mädchen also. Nächstes Mal ein Junge. Maya berichtet, wie stark sich der weitere Verlauf der Gespräche dann an ihrer Anwtort orientierte: „Sie ist ja auch echt zierlich.“ kam das eine Mal, und bei der nächsten Busfahrt hieß es dann plötzlich, das sei ja auch wirklich ein propperer Kerl.

Als Maya das so erzählt, wird mir nochmal mehr bewusst, wie rasch wir im Alltag in Geschlechterklischees stecken – nicht erst bei Farben von Bekleidung oder Motiven auf Ranzen. Bei meinen Recherchen rund um die Wesensarten wild und schüchtern war das auch schon deutlich geworden („Ein Junge darf aber nicht so schüchtern sein!“), und im Grunde muss man ja auch nur in ein Spielzeugwarengeschäft, eine Buchhandlung oder einen Babyaustattungsmarkt, um das sofort zu sehen. – Mayas Familie macht es anders.

Dabei leben sie das aber eben sehr leicht. Sie wollen keine ständigen offenen Konflikte mit dem Umfeld und zum Beispiel den Großeltern. Selbstverständlich gab und gibt es immer wieder Irritationen, aber sie bemühen sich um eine gute Erklärung und zwar auf Erwachsenenebene. Das Löwenkind muss das gar nicht mitbekommen und wird keinesfalls in Loyalitätskonflikte  gebracht.

Ich habe Maya gefragt, wo im Alltag sie dann aber doch auf fehlende Geschlechtsoffenheit stoßen mit den Kindern. Ihr fielen gleich Formulare ein, die noch immer nur binäre Auswahlmöglichkeiten beinhalten (während es bei Erwachsenen schon oft anders ist), oder auch die Tatsache, dass Kindergartengruppen oder Schulklassen noch fast durchgängig nach binärer geschlechtlicher Quotierung belegt werden. Meine Gespräche mit jugendlichen trans Personen brachten auch als erstes immer wieder diesen Punkt auf: Gruppeneinteilung nach Geschlecht – in Mathe, Englisch, Kunst, beim Ausflug… Es gibt keinen Grund und es verletzt sie. Hier ist noch so viel Veränderung nötig und sie ist an vielen Stellen überhaupt nicht umständlich.

Drei Eltern

In meinem Beratungsalltag ist es Gang und Gäbe, dass zwei Eltern vor mir sitzen und unterschiedliche Geschichten mitbringen, verschiedene Vorstellungen von Erziehung haben und sich über etliches austauschen müssen, was zu viel Streit führen kann. Von Maya wollte ich wissen, wie das dann bei drei Elternteilen ist.

Auch hier kommt der Familie zugute, dass sich alle vor der Geburt des Löwenkindes schon gut kannten, dass sie ähnliche Werte haben und vorab klare Absprachen getroffen hatten. Außerdem hilft es, dass sie sehr lösungsorientiert und fair miteinander in Klärungen gehen können. Maya sagt, es gäbe aber insgesamt ohnehin wenig Differenzen. Im Alltag würden sie sich bemühen, sich gegenseitig auf ein Thema hinzuweisen, wenn eine von ihnen das Gefühl hat, eine Blickrichtung oder eine Entscheidung sei nicht so gut. Natürlich kann das auch mal laut werden und eine Zeit brauchen, bis es zur Klärung kommt – wie in jeder Familie. Aber sie lassen einander auch Raum: Wer „Kinderverantwortungszeit“ hat, also gerade zuständig ist, darf entscheiden. Denn das Vertrauen ineinander ist groß.

Manche Beratungsfamilie muss in diesem Feld noch viel üben und lernen. Wir kommen alle aus unterschiedlichen Elternhäusern und bringen andere Erfahrungen mit in die Elternschaft – da kann das Zusammenfinden einfach sehr schwierig sein und braucht Zeit und Kraft. Mayas Familie ist hier hingegen von Anfang an ziemlich gut aufgestellt gewesen, was am Ende ganz sicher den Kindern guttut. Konflikte gehören dazu und sind nicht immer schnell oder leicht beigelegt, aber dank der Absprachen im Vorfeld doch oft.

Muttersein als trans Frau

In unserem Austausch bis hier hin tauchte Mayas trans Sein gar nicht auf. Es spielt schlicht keine Rolle für ihren Umgang mit den Kindern oder den Partnerpersonen. Sie musste sich als Mutter finden, so wie alle anderen auch: Ihr Thema waren zunächst die Ängste ums Kind. Sie war sehr vorsichtig, teilweise zu umsichtig und in Sorge. Der Gedanke vom „Recht des Kindes auf den eigenen Tod“ von Janusz Korczak hat ihr den entscheidenen Anstoß gegeben, etwas lockerer zu sein und dem Kind und seiner Entwicklung zu vertrauen.

Und doch kann Maya manchmal nicht einfach nur Mama sein und das Thema „Muttersein als trans Frau“ im Alltag leider nicht immer vollkommen ausblenden. Sie erzählt mir zwei Beispiele:

  • Es wird mit dem Kindeswohl argumentiert, dass die Geburtsurkunde vom Löwenkind nicht geändert werden darf. Hier wird Maya als „Vater“ und mit ihrem Deadname geführt, der sonst aus allen Dokumenten getilgt wurde. Das bedeutet für sie unangenehme Situationen, in denen sie sich erklären und outen muss, unter Umständen auf Auslandsreisen je nach Ort und Personen verbunden mit einem Risiko. Hier hat Maya große Hoffnung auf eine Veränderung der momentanen Gesetzgebung durch die grüne Regierungsbeteiligung. (Für lesbische Mütter sieht die Regelung schon anders aus, erläutert Maya mir.)
  • Im Kindergarten des Löwenkindes wurde vor einiger Zeit privat eine „Papa-Kind-Übernachtung“ initiiert. Maya hat das angesprochen, stieß aber nicht auf Verständnis. Andere Mütter wollten keine offenere Formulierung für eine derartige Veranstaltung und begründeten diese mit der wenig emanzipierten Aussage „Sonst bin ich ja wieder dran.“ Bei der „Papa-Kind-Übernachtung“ hat die Familie vom Löwenkind dann nicht teilnehmen können. – Ich erinnere mich, dass ich in der Kindergartenzeit meiner Kinder bei einem anderen Anlass eine ähnliche Frage an den Kindergarten gab: Denn auch ein „Großeltern-Kind-Nachmittag“ passt nicht für alle und kann einigen Kindern sehr ungute Gefühle machen. Auch hier wären offenere Konzepte leicht denkbar.

Repräsentation

Ich selbst bin nicht sehr bewandert auf dem Gebiet und frage Maya daher, ob sie das Gefühl hat, bunte Familien tauchen in Büchern oder bei Spielzeugen auf. Sie antwortet mir, dass sie hier wirklich weniges wahrnehme. Oft gäbe es Kinderbuchfiguren, die nicht eindeutig in der geschlechtlichen Zuordnung gezeichnet seien, aber mehr als zwei Elternteile oder eine trans Elternperson seien ihr noch nicht begegnet. Auch Patchworkfamilien werden nur als Trennungen mit klassischen Rollenverteilungen gezeigt. (Kennt jemand derartige Produkte? Dann bitte gerne eine Info an uns!)

Maya erzählt mir, dass sie vor einiger Zeit eine Zuschrift per Mail erhalten habe, in der zwei Schülerinnen ihr ihre Atelierarbeit vorstellten. In diesem Buchkonzept war ein trans Elternteil gezeigt und das Kind wollte auch seinen Namen ändern. Leider weiß sie aber nicht, wie das Projekt weiterhin verlief. Sie empfiehlt mir als einzige Idee das Buch „Wie entsteht ein Baby? Ein Buch für jede Art von Familie und jede Art von Kind“ von Cory Silverberg und Fiona Smyth, Mabuse Verlag, das ohne binäre Einteilung auskommt und sich eher an der schönen Fragestellung orientiert „Wer hat sich gefreut, als du auf die Welt gekommen bist?“

Um die Sichtbarkeit von Familien wie ihrer eigenen mit mehr als zwei Elternteilen oder polyamorem Leben zu erhöhen, um diesbezügliche Fragen zu beantworten (wie zum Beispiel „Wie feiert ihr mit so vielen Menschen eigentlich Weihnachten?“ und um verschiedene Themen aus der Perspektive von trans Personen zu zeigen, hat Maya selbst die Initiative ergriffen und einen eigenen Blog gestartet. Ihr findet ihn hier unter dem schönen Namen „VielGeliebt – love outside the box“. Noch mehr und häufiger könnt Ihr Mayas Gedanken aber via Twitter verfolgen.

Bindungsträume

Zum Schluss unseres etwa einstündigen Gespräches habe ich als Bindungsträumerin Maya gefragt, welchen Bindungstraum sie für Kinder und Eltern hat. Ihre Antwort zeigte, dass sie ihren Traum im Grunde lebt und zumindest für die eigene Familie keine Veränderungen braucht: Maya wünscht sich zum einen, dass Kinder hinsichtlich des Geschlechterthemas offene Begleitung erfahren. Und ihr ist es wichtig, dass alle Bezugspersonen möglichst gleichrangig im Beziehungsnetz des Kindes stehen, denn „viele Säulen tragen das Leben am besten“.

Gerade letzteres steht im Grunde in jedem Ratgeber zu Themen wie Mütterfürsorge, Überforderung, Mental Load, gleichrangige Partnerschaft… Es braucht mehrere Hände, ein echtes Netz. Das entlastet Erwachsene und tut damit immer den Kindern gut, weil alle einzelnen mehr Kraft für sie haben.

Wir als Gesellschaft dürfen uns von Mayas gelebtem Bindungstraum gerne noch etliche Scheiben abschneiden.

 

Titelfoto von Maya privat.