09 Jul

Bist Du mein Freund?

Was macht einen guten Freund aus? Er ist ein Weggefährte, kann über die gleichen Dinge lachen, hört gut zu, verbringt die Zeit gerne ähnlich wie man selbst, spürt wie es einem geht, hat Ideen zur Abhilfe, wenn es mal nicht so rund läuft…

Und ein guter Freund, der einen wirklich richtig kennt, darf auch sagen, wenn er findet, etwas, das man tut, ist nicht okay, gefährlich, idiotisch. Opportunisten und Bewunderer sind uns keine Stütze. Kritik kann mal zu Denk- und Kontaktpausen führen, aber am Ende findet man in echter Freundschaft auch nach „Kopfwäschen“ wieder zueinander. Sie sollte ja hilfreich und nicht verletzend sein, und das erkennt man dann hoffentlich auch.

Freundschaft ist im Idealfall ein Geben und Nehmen ohne aufzurechnen, wer mehr für den anderen tut. Eine enge, intensive Verbindung. Eine Lebenshilfe. – Und Eltern-Kind-Beziehung: kann das auch eine Freundschaft sein?

Mein Kind, mein Kumpel?

In vielerlei Hinsicht gibt es da Parallelen: wir gehen mit unseren Kindern ein ganz langes Stück zusammen auf einem Weg; wenn es gut läuft, bleiben die Wege ein Leben lang dicht beieinander, führen vielleicht sogar in ähnliche Richtungen, kreuzen sich stetig. Wir versuchen, gemeinschaftliche Momente zu finden, in denen wir zusammen lachen und das Leben genießen. Wir reden und drücken uns, hören einander zu und sind empathisch. Wir tauschen Ideen aus, wie Dinge besser laufen könnten, erzählen einander unsere Sichtweisen auf die Welt, suchen Kompromisse.

In enger Eltern-Kind-Bindung und -Beziehung sowie bei guter innerfamiliärer Kommunikation kann auch Groß zu Klein und Klein zu Groß sagen, was aus der eigenen Sicht schief läuft, was verletzt, was anstrengt. Ohne den anderen verändern zu wollen, aber doch ein Nachdenken auslösen, ein Lösungenfinden anregen zu wollen. Und daraufhin kann man mal beleidigt sein, sich zurückziehen und sammeln müssen. Aber man wird hoffentlich wieder zueinander finden, weil das Band ja da ist und das grundlegende Gefühl der Zusammengehörigkeit.

Mit steigendem Alter der Kinder wird man auch das Gefühl entwickeln können, dass es ein Geben und Nehmen gibt, und es tut sicher gut, dies – wie bei anderen Freundschaften – nicht aufzurechnen, höchstens anzusprechen, wenn etwas in totale Schieflage gerät. Kinder können sogar wie kleine Therapien für uns sein, die uns helfen, uns zum Besseren hin zu verändern (ein Gedanke, den Nora Imlau in der Präsentation zu ihrem Buch „So viel Freude, so viel Wut“ vermittelt und der einen jedes Kind und jede noch so anspruchsvolle Eltern-Kind-Beziehung positiver sehen lassen kann). Ein Geschenk für uns – wie gute Freunde es auch sein können!

Ich, der Leitwolf

Aber: meines Erachtens bleiben zwei Aspekte, die verursachen, dass die Beziehung zu unseren Kindern keine Freundschaft wie jede andere sein kann und sollte.

Zum einen sind wir Eltern die Älteren mit mehr Lebenserfahrung, mit mehr Möglichkeiten, uns zu informieren und einzufühlen, an uns zu arbeiten und Gesamtsituationen im Blick zu haben. Wir können uns bewusst machen, dass unsere Kinder Dinge tun, die uns verletzen oder stressen, aber dass das in uns passiert und nicht die Kinder die Verantwortung dafür tragen. Wir können nicht erwarten, dass unsere irgendwann schon größeren Kinder wie ein erwachsener Freund zu jedem Zeitpunkt ihrer Entwicklung dazu im Stande sind, sich zurückzunehmen, Verständnis zu haben, an sich zu arbeiten und sich zu verändern, sich flexibel auf uns einzustellen, um die Beziehung aufrecht zu erhalten. Dass sie von sich aus das Gespräch zu uns suchen, Klärung, weil sie vielleicht diejenigen waren, die etwas auf den ersten Blick „Verletzendes“ getan haben. „Du bist nicht mehr mein Freund!“ kann von einem Erwachsenen eine klare Ansage sein; von einem Kind ist es in der Regel nur ein Hilfeschrei, ein Zeichen der Überforderung, nicht wortwörtlich gemeint und braucht unser Verständnis und ein von uns gepushtes Wiederaufeinanderzugehen.

Hier müssen wir die Leitrolle übernehmen, einschätzen, was möglich ist, tun was wir können, und einfordern, was die Familie braucht. Das sind immer wieder auch unbeliebte Dinge, denen früh in der Entwicklung noch nicht ausgeformte Kognition, ein kindlicher Hedonismus, phasenhafte Trägheit oder noch bestehender Egozentrismus entgegenstehen können. Hier heißt es im Sinne des Kindes, der Familie, der Gemeinschaft gegenzusteuern – helfend, zugewandt, einfühlsam, bedürfnisorientiert, aber bestimmt, leitend, entscheidend, regulierend, konsistent und klar (ggf. mit therapeutischer Hilfe für uns Große, denen dieses Leitwolfsein schwerfällt).

In einer gleichberechtigten Freundschaft wäre das so nicht möglich. Absolutes Gleichsein würde unsere Kiner auch schlichtweg einfach überfordern (Hier gibt es mehr zum Thema  „Wie kann bindungsorientierte Elternschaft aussehen?“).

Zum anderen wünschen wir uns ja Kinder, die nicht nur Wurzeln von uns bekommen, sondern auch Flügel entwickeln sollen. Selbständigkeit, eigene Meinungen, Unabhängigkeit, konträres Denken zu unserem – das alles ist okay – wichtig sogar – und kann nur gelingen, wenn wir Platz lassen fürs Ausprobieren, für Freunde, die nur zum Kind gehören und nicht aus der Familie stammen, für Entwicklungsstränge, die wir bei einem Freund nicht ertragen könnten. Unsere Kinder können in eine ganz andere Richtung laufen als wir, was wir bei einem Freund nicht mitgehen würden – mit unseren Kindern wollen wir dennoch in Verbindung bleiben; die Nähe ist anders.

Lassen wir den Kindern diesen Raum, lassen Sie uns auch unsere Räume und werden nicht in Positionen geschoben, in denen sie sich verantwortlich für unser Wohlergehen fühlen! Schenken wir Ihnen Vertrauen und Freiheit, damit sie eigenständige Menschen werden können. Und vielleicht kommen sie als Große ganz eng zu uns zurück – erwachsen, stark, beratend und auf eigenen Wunsch hin schließlich doch als ein Freund.

Freunde sind für mich Wahlverwandtschaft. Wenn die echte Verwandtschaft in Form der Kinder im Erwachsenenalter auch dazu wird, ist das wunderschön, aber kein Muss. Wir dürfen unterschiedlich sein, unterschiedlicher als Freunde es sind.

IH