05 Jun

Die einfachste Beziehung – von Babyfallen und Lieblingskindern

Fast alle von uns, die mehrere Kinder haben, verraten hinter vorgehaltener Hand, dass sie manchmal ein „Lieblingskind“ haben oder dass es Zeiten gibt, in denen ihnen das eine Kind näher als das andere ist. Manchmal sind das sogar lange Phasen. Manchmal macht der Stress mit einem der Kinder sogar, dass wir uns die Babyzeit zurückwünschen oder sogar lieber noch ein neues, kleines Wesen, auf das wir uns konzentrieren können.

Ich glaube, das ist „normal“, menschlich, nachvollziehbar. Aber ich glaube auch, dass sich das negativ entwickeln kann – und wir deshalb genauer hinschauen sollten.

Manchmal prallen so verschiedene Anforderungen aufeinander: ein großes Kind in der Autonomiephase oder vielleicht der Zahnlückenpubertät, das täglich seinen Willen sucht, Orientierung braucht und uns deshalb kräftig einfordert, das spürt, dass es mehr Verantwortung für sich oder bestimmte Aufgaben übernehmen will, das alles aber nicht gut artikulieren kann – und uns anstrengt, gefühlt von morgens bis abends. Und dann gibt es parallel dazu vielleicht die verklärte Erinnerung an die ach so leichte Babyzeit, in der man nur ein bisschen in den Schlaf tragen, füttern und regelmäßig für frische Windeln sorgen musste, in der Nähe und Bindung so rasch herzustellen waren.

 

 

Oder es gibt sogar ein weiteres Kind, dass in dieser Phase ist und beim Wickeln so viel niedlicher als der große Kinderpo auf dem Töpfchen, beim Essen so viel lustiger als der Reiskornwerfer unterm Tisch, beim Spielen so viel simpler zu belustigen als das Ich-geb-nichts-ab-Kind, das den ganzen Spielplatz zusammenbrüllt. Das Kindchenschema des Babyalters zieht uns in seinen Bann, und der Blick für die Grandiosität des größeren Kindes wird leicht versprerrt.

Manchmal knallen auch so unterschiedliche Personen und Temperamente in einer Familie aufeinander, und das Kind, das uns da ähnlicher ist, gelangt viel leichter in unser Herz, als das Kind, das so anders ist und bei dem wir ständig grübeln müssen, wie wir richtig reagieren.

Herz und Kopf schalten auf Tunnelblick

Und wir? Stehen dazwischen, denken nicht wirklich darüber nach, aber spüren: das „einfache“ Kind tut uns so gut; so wollen wir den Familienalltag. Lieber das süße Baby als der wilde Dreijährige. Lieber das folgsame Grundschulkind als der verrückte und dauermotzende Teenie. Lieber das lustige Zweijährige als der Hausaufgaben verweigernde Grundschüler. Lieber den Bindungswunsch mittels simplem Tragen erfüllen können, als ewig zu reden, zu singen, zu spielen, zu diskutieren. Lieber das was wir besser kennen als das Fremde, in das wir uns einarbeiten müssen – lieber das Einfache als DAS!!

 

 

Ja, das ist ein simpler Weg, der oft unbewusst passiert, zu verstehen ist und für den wir uns auch nicht schämen müssen. Doch wir können ihn wahrnehmen, genauer hinsehen – und daran arbeiten.

Denn: in anderen Beziehungen gehen wir doch auch nicht schlicht sofort und immer den einfachsten Weg. Oder?

Wie laufen unsere Beziehungen denn sonst so?

Wählen wir lieber den Freund aus, der nicht ständig Beziehungsstress hat, und lassen den anderen fallen, weil er eh nur wieder mit Liebeskummer um die Ecke kommt und Trost sucht?

Entscheiden wir uns für einen neuen Partner, weil der jetzige mit einer Krebsdiagnose heimgekommen ist und jetzt so viel Zuspruch und Kraft und Zeit von uns braucht?

Sagen wir unseren Eltern Auf Nimmerwiedersehen, weil sie plötzlich alt, gebrechlich und wundersam werden und nun unsere Hilfe brauchen anstatt für uns eine Stütze zu sein?

 

 

In der Regel nicht. In der Regel bleiben wir und kämpfen, leiden auch und schimpfen, verfluchen das Anstrengende, aber setzen uns ein, denn diese Menschen sind unser Leben. Freunde, Familie, Wahlverswandschaften.

Und unsere Kinder – die sollten das am meisten sein. Unser Leben, unser Beziehungsnetz für das es sich zu kämpfen lohnt. Denn erstmal haben sie nur uns. Wir haben sie gewollt, wir sollten sie nehmen wie sie sind – einschließlich der Aufgaben, die sie für uns mitbringen. „Die Therapie, nach der wir nie gefragt haben“, wie Nora Imlau sagt.

Beziehungsarbeit

Packen wir uns also an unsere eigene Nase: Beziehung ist immer Invest, Arbeit, Stress, natürlich möglichst auch Freude, Genuss, Leben, Verbindung – aber eben gekoppelt mit Last und Mühe. Das gehört dazu. Das nehmen die anderen ja normalerweise auch für uns in Kauf.

Daher sollten wir uns bemühen, in allen Beziehungen gleich da zu sein.

 

 

Alle unsere Bindungsmenschen immer gleich zu sehen, sie gleich zu mögen, gleich gerne Zeit mit ihnen zu verbringen, ist meines Erachtens ehrlich gesagt schwer möglich – und es ist menschlich, dass es so ist. Aber wir sollten uns bemühen, die Menschen in unserem Leben, auch und vor allem unsere Kinder, zu nehmen und zu lieben, wie sie nun einmal sind, nicht den einfachsten Weg zu gehen und uns wegzudrehen zu Schönerem, sondern zugewandt, achtsam zu bleiben, gerade in den harten Zeiten.

„The children who need love the most will always ask for it in the most unloving ways.“

(Russell A. Barkley)