22 Jul

Ferdinand Saalbach: „Steine im Rucksack“

Im Folgenden teilen wir mit Euch einen Textauszug aus einer sehr bewegenden Autobiographie: im Buch „Steine im Rucksack“ beschreibt Ferdinand Saalbach seine Kindheit und Jugend sowie seine Entwicklung und Probleme, die aus den Erfahrungen dieser Zeit entstanden sind. Er erzählt nach, welche Versäumnisse und Fehler er an seinen Eltern wahrgenommen hat, wie er darunter litt und leidet, welche Hilfen er in Anspruch nehmen musste, um dennoch sein Leben leben zu können, und er lässt den Leser auch an der (jahrelangen) Auseinandersetzung mit seinen Eltern teilhaben.

Das Buch ist wahrlich keine leichte Kost (teilweise gibt es auch enstprechende Inhaltswarnungen für spezielle Kapitel), und als Leser bewegt man sich immer wieder zwischen den Polen „Das müssen die Eltern doch jetzt aber mal einsehen und mit ihrem Sohn an Lösungen arbeiten!“ und „Kritisiert er seine Eltern nicht zu sehr und sollte selbst etwas versöhnlicher auf sie zugehen?“  Gerade wenn man selbst eben die Kind- aber auch die Elternrolle kennt. Aber letztendlich sind es eben keine Kleinigkeiten, nichts einfach Verzeiliches. Es sind Wunden, teilweise üble. Und ein Sohn verdient zumindest das Anerkennen dieser! Wie oft sagen wir Bindungsträumer das: Die Gefühle (der Kinder) sind nicht immer nachvollziehbar, aber sie haben es verdient, dass wir anerkennen, dass sie da sind, und mit ihnen umgehen. Negieren ist keine Option!

„Stell Dich nicht so an!“ ist nicht okay!

Ferdinand Saalbach erlebt kein Anerkennen und in Folge dessen auch kein Arbeiten an den Geschehnissen gemeinsam mit den Eltern. Alles sitzt weiterhin tief, trotz therapeutischer Hilfe. Im folgenden Textauszug wird deutlich, warum uns Bindungsträumern das Buch so wichtig ist:

„(…) Durch diese Situation wurde mir bewusst, wie tief die Schäden waren, die wahrscheinlich ganz früh in meiner Kindheit gelegt wurden. In Situationen, an die ich mich natürlich nicht mehr erinnern kann. Psychologen sagen, dass in den ersten anderthalb Jahren des Lebens ganz entscheidende Grundbedingungen für das spätere Leben geprägt werden. In diesen Jahren nehmen Kinder alle möglichen Empfindungen aus ihrer Umwelt auf. Menschen sind nie mehr so sensibel und anfällig für das, was in ihrer Umwelt geschieht, wie in diesen 18 ersten Lebensmonaten. In dieser Zeit wird die Amygdala eingestellt und eben dieser Teil des Gehirns ist für die elementarsten Reaktionen auf die Umwelt zuständig. Dieser Teil des Gehirns entscheidet, ob und wann und wie wir in den Angst-/Flucht-Modus oder in den Totstell-Modus gehen oder ob wir das alles als normal empfinden. Und wenn die Amygdala in den ersten 18 Monaten zu sehr gefordert wird, dann kann es passieren, dass sie in einem extremen Modus hängen bleibt. Dann kann es sein, dass Menschen ihr ganzes Leben lang mit einer immerwährenden Angst leben. Dass sie immer überreizt sind. Dass sie immer Furcht davor haben, es könnte etwas Schreckliches geschehen.

Das kann daher kommen, dass Kinder in den ersten 18 Monaten furchtbaren Ängsten ausgesetzt werden. Beispielsweise, indem man sie ins Wasser fallen lässt. Wie es ja mit mir geschehen ist. Oder indem man sie einfach schreien lässt, anstatt sich um sie zu kümmern. Oder indem man nicht genug auf sie aufpasst und sie sich dann dabei verletzen, wenn sie Dinge ausprobieren.

Es kann auch daher kommen, dass Kinder die Gefühle ihrer Eltern aufnehmen. Dass sie bemerken, wenn die Eltern miteinander streiten. Dass sie die Angst und Unsicherheit ihrer Eltern im Umgang mit ihnen bemerken. Dass sie merken, wie ernst es die Eltern mit ihnen meinen. Wie wichtig die Eltern den Umgang mit dem Kind nehmen. Oder ob sie sich über das Kind lustig machen, wenn es nach Luft schnappt. Wie es mit mir geschehen ist.

Meine Therapeutin sagte dazu einmal: „Es geht gar nicht so sehr um das Trauma. Das Trauma ist nicht das, was die schlimmen Dinge auslöst. Es ist der Umgang mit dem Trauma“. Ich übersetze das für mich so: alle Eltern machen Fehler. Es unterläuft wahrscheinlich jedem Elternteil einmal, dass das Kind auf die heiße Herdplatte fasst, vom Sofa fällt oder im Wasser nach Luft schnappt. Wenn die Eltern dann mit Mitgefühl darauf reagieren, lässt sich dieses Trauma lindern oder sogar vollständig auslöschen. Wenn die Eltern dem Kind das Gefühl geben, dass es gerade etwas Schlimmes erlebt hat und dass es jetzt Angst haben, sich unwohl fühlen und schockiert oder traurig sein darf, dann kann das Kind mit seinen Gefühlen und mit dem schrecklichen Ereignis umgehen. Mehr noch: das Kind erkennt, dass auch Gefühle wie Angst, Trauer und Schmerz eine Berechtigung haben und dass sie zum Leben dazugehören.

Geben die Eltern ihrem Kind aber das Gefühl, dass das „gar nicht so schlimm gewesen sei“, dann nehmen sie die schlimmen Gefühle ihres Kindes nicht ernst. Das Kind lernt dann, dass schlimme Gefühle etwas Falsches sind und beginnt, sie zu unterdrücken. Denn die darf es ja nicht geben. Wenn die Eltern das Kind auslachen in einer Situation, in der es etwas Schlimmes erlebt, dann fühlt sich das Kind nicht wertgeschätzt und gesichert. Es erlernt dann das Gefühl, dass die eigenen schlimmen Erlebnisse nicht schlimm sind. Es lernt, dass der eigene Todeskampf vielleicht für einen selbst schlimm ist, für die allernächste Umwelt – namentlich die Eltern – aber nicht. So erlernt das Kind, dass das eigene Leben nichts wert ist. Wenn dem Kind beigebracht wird, dass der eigene Schock über etwas, vor dem es sich gerade erschrocken hat (bspw. weil es ins Wasser gefallen und fast ertrunken ist), nicht so wild sei, dann lernt das Kind, dass es nicht um sein Leben kämpfen muss, weil dazu gar keine Notwendigkeit besteht. Der eigene Tod wird als etwas empfunden, das den Eltern nicht wichtig ist und entsprechend wird das eigene Leben als nicht wichtig empfunden.

Wenn Eltern sich diese Prägungen bewusst machen, dann können sie aktiv Einfluss darauf nehmen, wie es dem Kind später gehen wird. Normale Eltern haben von Anfang an ohnehin das Bedürfnis, ihrem Kind maximalen Schutz zu geben und ihm das Vertrauen zu vermitteln, dass ihm in ihrer Gegenwart nichts passieren kann. Wenn Eltern es versäumen, dieses Vertrauen zu vermitteln, dann wird den daraus erwachsenden Menschen immer ein Ur-Vertrauen fehlen. Sie werden immer ein Misstrauen gegen die Welt, gegen sich selbst und gegen alle anderen Menschen hegen. Normale Eltern handeln aus ihrem ganz eigenen Gefühl heraus beschützend und vermitteln dieses Gefühl auch ihren Kindern. Eltern, die dieses Schutzbedürfnis nicht vermitteln, sollten sich bewusst machen, was daraus an Folgen entstehen kann. Und Eltern, die das schon in den frühesten Lebensmonaten nicht vermittelt haben und dann über Jahre und Jahrzehnte in dieselbe Kerbe schlagen und dem Kind ein Leben lang das Gefühl geben, dass seine schlimmen Gefühle nicht der Rede wert seien, dass die traumatischen Ereignisse, die das Kind erlebt hat, ganz normal seien und dass das Kind sich mal nicht so anstellen solle; die dem Kind ein Leben lang das Gefühl geben, dass es an seinem Leiden selbst schuld sei und sich mal nicht so drama-mäßig inszenieren soll, die produzieren einen Menschen wie mich. Mit all seinem Leid, mit all seinen Dysfunktionen, mit all der Angst vor dem Leben und vor anderen Menschen und auch mit all der Wut. (…) „

Immer, immer bleibt der Kern: Mitgefühl

Spürt Ihr, warum Ferdinands Geschichte wichtig ist und es richtig war, dass er sie aufgeschrieben hat? Es war sicher wichtig für ihn selbst, aber auch für andere Betroffene. Was ist alles Missbrauch, was psychische Gewalt? Wie kann ich damit umgehen, wenn ich erwachsen bin? Und: Was können Eltern tun, um solche Verläufe zu vermeiden?

Es geht nicht darum, dass wir perfekte Eltern brauchen. #gutgenug reicht.

Aber das beinhaltet eben, dass Fehler oder nur so Naja-Wege nur okay sind, solange Augenhöhe, Wertschätzung, Miteinander und vor allem Mitgefühl dazugehören!

(Entscheidet selbst, ob Ihr ausreichend gut aufgestellt seid, um die Lektüre anzugehen. Unter dem o.g. Link gibt es viel Material rund um das Buch, der Euch beim Entscheiden helfen kann. Und über den Twitteraccount von Ferdinand könnt Ihr den Autor auch leicht persönlich erreichen und Fragen stellen.)