02 Jan

Fremdeln / Achtmonatsangst

„Wenn Du das Baby immer nur auf Deinem Schoß behältst, kann es ja auch gar nicht lernen, sich an andere zu gewöhnen. Jetzt gib es doch mal herum!“

„Das muss ja ein kleiner Narziss werden, wenn Du auf jedes Weinen gleich so reagierst und ihn hochnimmst, sobald jemand Fremdes ins Zimmer kommt!“

Immer wieder stoße ich in Gesprächen auf diese Themen, Phrasen und Fragen. Die Phase des Fremdelns ist weniger bekannt, als es mir bewusst war. Viele Eltern beschäftigen sich damit, wenn sie die ersten Anzeichen dafür bei ihrem Baby wahrnehmen, aber ihr Umfeld ist oft trotzdem noch sehr unaufgeklärt.

Ein anderes Wort für das Fremdeln ist auch Achtmonatsangst, denn dieses Alter gilt als Höhepunkt dieser Phase bei den meisten Babys; oft dauert sie dann an bis etwa zum ersten Geburtstag. Erste Anzeichen kann es aber durchaus auch schon früher geben, und die Fremdenangst kann auch länger anhalten.
Der Ablauf und die Intensität können von Kind zu Kind ganz unterschiedlich aussehen und sagen nicht unbedingt etwas über die Bindung zu den Eltern aus – von dieser Sorge, die oft vorhanden ist, sollte man sich erstmal frei machen! Die Anzeichen des Fremdelns können von kaum vorhanden über ein paar Tage spürbar bis lange und heftig zu merken sein. All dies ist im Rahmen und okay und muss eben einfach begleitet werden.

Die Entwicklungspsychologie geht davon aus, dass die Intensität des Fremdelns davon abhängt, wie emotional das Kind ist, wie neugierig, wie empfindsam. Bezeichnet wird dies als das „Temperament“ (genauer nachzulesen zum Beispiel bei Oerter/Montada „Entwicklungspsychologie“, erschienen im Beltz-Verlag). Aber auch Erfahrungen bewirken Unterschiede im Fremdeln. So kann das bei ein und dem selben Kind mal heftig sein und mal dezent.
Die Forschung hierzu beschreibt auch, dass das Fremdeln in der Regel umso früher und intensiver auftritt, je enger der Eltern-Kind-Kontakt ist; und im Schnitt fremdeln Kinder weniger, die in großen Gemeinschaften oder gar in Kulturen aufwachsen, die ganz auf „Gemeinschaftserziehung“ aufgebaut sind. Dies ist aber nur als statistische Durschnittsangabe zu lesen und beansprucht keine Allgemeingültigkeit.

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Foto: Hummel privat

Für Euren Alltag mit Kind ist wichtig, dass Ihr Euch nicht verunsichern lasst, wie es teilweise durch eingangs genannte Zitate geschieht. Ich erlebe es tatsächlich immer wieder, dass den Eltern aus meinen Kursen innerhalb der Familie oder des Freundeskreises vorgeschlagen wird, den Babys „zu helfen, das Fremdeln schneller loszuwerden“, indem man sie entgegen ihrer Signale „möglichst viel herumreicht“.
Das Gegenteil ist natürlich der Fall: wenn man das Fremdeln begleitet, auch wenn es stark und damit anstrengend ist, ist es häufig relativ schnell vorbei (eben je nach Temperament), und Euer Baby kann stark, sicher und selbstbewusst auf die Welt zugehen.

 „Was mache ich nur falsch, dass sie plötzlich so an mir klammert?“

Meistens macht man also gar nichts falsch; es gehört zur normalen Entwicklung dazu. Nur manchmal lohnt es sich auch, genauer hinzuschauen, denn die Erfahrungen, die zusätzlich zum Temperament Einfluss haben können, sind nicht zu vernachlässigen. So hatte ich schon eine Familie in der Beratung, die sich diese Frage gestellt hat, weil ihr Kind den Eltern tagsüber, beispielsweise in der Spielgruppe, nicht vom Schoß wich. Und bei ihnen stellte sich heraus, dass nachts mit einem strengen Schlafprogramm gearbeitet wurde, so dass das Kind vermutlich tagsüber einfach die Nähe suchte, die ihm nachts verweigert wurde.

Wie könnt Ihr Euren Kindern helfen?

Nehmt ihre Signale ernst! Bietet ihnen Sicherheit auf Eurem Schoß, auf Eurem Arm, an Eurer Hand, so lange sie dies einfordern. Geht langsam in neue Situationen, auf fremde Menschen zu. Auch bekannte Menschen, die aber nicht ihre engsten Bezugspersonen sind, können als fremd empfunden werden; sogar die wöchentlich besuchte Spielgruppe ist manchmal plötzlich fremdes Terrain, und auch enge Verwandtschaft kann auf einmal in die Gruppe der Fremden eingeordnet werden. Erklärt, dass sich niemand verletzt fühlen muss, denn das kommt leider immer wieder vor! Bittet darum, dass sensibel und vorsichtig auf Eure Kinder zugegangen wird, dass kein Körperkontakt eingefordert wird, manchmal nicht mal Blickkontakt aufgenommen wird.

Oft hilft es, wenn Ihr ganz da seid für Euer Kind, aber alle anderen erstmal so tun, als sei es nicht da, wenn es die Fremdelsignale ausgesandt hat. Dann kann es in Ruhe in der Situation ankommen, alle mustern, sich wahrnehmen – und auftauen. Und häufig wird es sich dann auf einmal trauen, von sich aus, und Kontakte suchen, zu den Menschen, mit denen es dies möchte.

IH

Ein Gedanke zu „Fremdeln / Achtmonatsangst

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