03 Mai

Ich trage dich in die Welt!

Oft hört oder liest man von verunsicherten Eltern, Großeltern oder aber kinderlosen Leuten Bedenken bezüglich des Tragens. „Ist das überhaupt gut fürs Baby? Verwöhne ich es dadurch nicht total? Warum soll ich das Kind ständig rumtragen? Warum mag es nicht im Bettchen oder Kinderwagen liegen?“ – Hier ein paar Gedanken dazu aus meiner Sicht als Mutter von drei getragenen Kindern und (seit Kind 3) Trageberaterin. 

 

Die Antwort auf die Frage, warum wir unsere Babys tragen sollten, ist relativ simpel: Der menschliche Säugling ist ein Tragling.

Die Biologie unterscheidet folgende drei Jungentypen der Säugetiere:

Nesthocker kommen blind und ohne Fell zur Welt, sie warten im Nest auf die Mutter, um gefüttert zu werden (z. B. Katze oder Hund).

Nestflüchter sind bei Geburt quasi kleine Miniaturausgaben ihrer Eltern. Sie können sich selbst fortbewegen und dem Muttertier folgen (z. B.: Pferd oder Kuh).

Traglinge befinden sich in direktem Körperkontakt zum Muttertier, in dessen Fell sie sich festklammern (Affe = aktiver Tragling) oder sitzen im Beutel des Muttertieres (Känguruh = passiver Tragling).

Es ist von der Natur so vorgesehen, dass wir unseren Nachwuchs eng am Körper bei uns tragen, solange er völlig hilflos ist, sich nicht selbst fortbewegen kann und auf unsere Fürsorge angewiesen ist. Irgendwo alleine abgelegt zu werden, fühlt sich für die meisten Babys einfach „falsch“ an, und sie beginnen, dagegen zu protestieren. Erst leise, dann lauter. Sie wollen damit instinktiv ihre Bezugsperson herbeirufen (Kontaktweinen). Dieses Überbleibsel aus früheren Zeiten, als es eine echte Gefahr darstellte, als kleiner Mensch zurückgelassen zu werden, ist zwar in der heutigen Zeit nicht mehr so wichtig – aber das wissen unsere Babys nicht.  Für sie ist der Kontakt zur Bezugsperson quasi lebenswichtig.

 

Ankommen in der Welt

Neun Monate lang war das Baby rundum geborgen, fühlte weder Hunger noch Kälte oder Hitze, hörte die bereits vertrauten, aber gedämpften Stimmen von Mama und anderen Personen aus dem nahen Umfeld, schmeckte Mamas Geruch. Es war alles rundum perfekt. Und dann wird das Baby mit der Geburt aus dieser gewohnten Umgebung schlagartig „herausgerissen“.  Alles ist neu, alles ist plötzlich anders. Damit kommen manche Neugeborene besser klar, andere weniger gut. Viele Babys haben nach der Geburt Anpassungsschwierigkeiten, die sich v.a. in den ersten drei Lebensmonaten bemerkbar machen. Sie schreien dann vielleicht vermehrt, sind sehr „anhänglich“, wollen immer getragen werden, lassen sich kaum ablegen. Man spricht in diesem Zusammenhang gerne vom Gebährmutterheimweh oder auch vom Vierten Trimester oder der Schwangerschaft außerhalb vom Mutterleib. 

 

Unsere Babys werden zu früh geboren

Ja, auch wenn sie termingerecht zur Welt kommen, ist es eigentlich zu früh für die kalte, harte Welt da draußen. Unsere menschlichen Babys sind im Vergleich zu allen anderen Säugetieren am hilflosesten und am wenigsten weit entwickelt. Eigentlich müsste die Schwangerschaft länger dauern, damit sie den Reifegrad erreichen, den andere Säugetierarten bei der Geburt haben. Die Wissenschaft spricht in diesem Zusammenhang von der Physiologischen Frühgeburt. Aber warum ist das so? Warum kommen unsere Babys zu früh zur Welt? Man geht davon aus, dass das die Nebenwirkungen der Evolution sind. Durch den aufrechten Gang ist unser Becken schmaler geworden. Und durch unsere großen Gehirne ist auch der Kopf bei der Geburt sehr groß. Das Baby muss also nach spätestens neun Monaten geboren werden, sonst würde es im Geburtskanal steckenbleiben, da die Proportionen nicht mehr zusammenpassen.

 

Was können wir tun, um den Babys den Start ins Leben zu erleichtern?

Was wir tun können, ist, die gewohnten Bedingungen in diesen ersten drei Monaten und auch noch danach so gut wie möglich zu simulieren. Also die Geborgenheit, die Sicherheit, die Wärme, den Körperkontakt. Die simulierte Schwangerschaft außerhalb des Mutterleibs, das vierte Trimester. Am einfachsten und stressfreiesten gelingt uns dies: genau, durch den Gebrauch von Tragehilfen oder Tragetüchern. So spürt das Baby die so wichtige Nähe, den Körperkontakt, den vertrauten Geruch seiner Bezugsperson(en), es kann seine Körpertemperatur stabil halten. Und wir Eltern? Wir haben dabei die Hände frei, um andere Dinge zu erledigen. Und wenn es nur ist, sich schnell nebenbei ein Brot zu schmieren.

 

Babys brauchen Körperkontakt

Das gilt zwar nicht nur für Babys, aber je jünger das kleine Menschlein ist, umso wichtiger ist der direkte Kontakt zu einer anderen Person (die nicht zwangsläufig  ständig nur Mama oder Papa sein muss). Nachgewiesenermaßen reagieren Babys auf fehlenden Körperkontakt: Atmung und Herzfrequenz sind dann weniger stabil, die Körpertemperatur sinkt, der Körper produziert Stresshormone. Und auch die Psyche leidet langfristig, wenn der Kontakt zur Bezugsperson fehlt. Denn die Eltern-Kind-Bindung entsteht im ersten Lebensjahr hauptsächlich im direkten Körperkontakt. Übrigens, das sog. Kuschelhormon (oder auch Bindungshormon) Oxytozin wird bei Körperkontakt vermehrt ausgeschüttet. Und zwar beim Baby UND bei Mama/Papa. ❤

 

Tragen = Verwöhnen?

Diese Sorge sitzt bei vielen Eltern und Großeltern immer noch tief. Kann es ein Zuviel an Körperkontakt, an Tragen und Getragenwerden geben? Nein. Es hat nichts mit Verwöhnen zu tun, wenn wir unseren Kindern das geben, was sie zum Leben brauchen, und dazu zählt neben Nahrung und liebevoller Zuwendung eben auch der direkte Körperkontakt. Wir stärken dadurch ihr Urvertrauen, ihr späteres Selbstvertrauen und ihr Vertrauen in uns und unsere (Um-)Welt, wenn wir prompt auf ihre Signale reagieren.

 

Körperliche Merkmale des Traglings

Noch heute zeigen unsere Babys gewisse Merkmale und Reflexe, die darauf schließen lassen, dass unsere Vorfahren ihren Nachwuchs bei sich trugen:

Mororeflex (Klammer- und Festhaltereflex), das sofortige Nach-vorne-Nehmen beider Arme, wenn das Baby droht, zu fallen.

Greifreflex, wenn etwas die Handfläche berührt.

Anhock-Spreiz-Stellung der Beine, sobald das Baby hochgenommen wird.

Schauen wir uns die typische Körperhaltung eines Neugeborenen an: Der Rücken ist gerundet, die Beinchen werden angezogen und leicht gespreizt. Interessanterweise „passt“ das Baby in dieser Haltung haargenau auf die Hüfte eines Erwachsenen, was die Schlussfolgerung zulässt, dass die Babys unserer Urahnen vermutlich seitlich auf der Hüfte transportiert wurden. Genau diese typische runde Körperhaltung wollen wir auch beim Tragen unterstützen: Das Baby hockt in der Tragehilfe mit leicht gespreizten Beinchen, der Rücken wird gestützt, aber kann sich dennoch leicht runden. Der Moro- und Greifreflex, den die Babys anfangs noch zeigen, dann aber bald verlieren, deutet darauf hin, dass die Babys unserer Vorfahren sich tatsächlich aktiv am Tragen beteiligten, indem die sich im Fell festhielten und bei ruckartigen Bewegungen reflexartig festklammerten, um nicht zu fallen (aktiver Tragling).

 

Ich trage dich in die Welt!

Tragen ist keine neumodische Erfindung, kein moderner Trend. Tragen ist die natürliche Fortbewegungsart für menschliche Säuglinge. Wir dürfen sie tragen, ohne schlechtes Gewissen, das uns manche Zeitgenossen vielleicht einreden möchten, und ohne zeitliche Begrenzung, solange es Kind und Eltern gefällt und guttut. Tragen wir unsere Babys in die Welt hinaus. Sie erwarten es.

 

Dieser Artikel erschien ursprünglich auf meiner Homepage www.trageberatung-hagelstadt.de. Für Bindungs(t)räume wurde er überarbeitet und ergänzt.