14 Jun

MANGELHAFT! Oder doch nur verschieden?

Ich habe es selbst erlebt. Und ich habe mich umgehört. Es ist nicht schön!

Fallen Kinder aus dem Rahmen, wird fast immer ein Begriff dafür gefunden, der nicht gut ist. Nicht positiv. Der nach Mangel und Kritik klingt. Der sich so anhört, als sei das Kind falsch, müsse verändert und angepasst werden.

Defizitdiagnosen, Vorwürfe, Beurteilungen. Von Verwandten, Institutionen, Ärzten – manchmal vielleicht sogar von Euch selbst? Gefühlt zu recht oder unrecht?


Kommen sie von anderen, können sie uns und die Kinder verunsichern oder auch verletzen. (Kommen sie von uns selbst, weil wir oberflächlich aufs Kind schauen, bestimmen sie unser weiteres Denken und Vorgehen – und verunsichern und verletzen vielleicht unser Kind oder andere Kinder.)

 

Traurige Beispiele – und Alternativen

Im Austausch mit etlichen Eltern habe ich Beispiele gesammelt, die traurig machen. Mit einem anderen, gesünderen, wohlwollenderen Blick auf die Kinder hätten alle Situationen anders laufen können:

Ein gefühlsstarkes und hochbegabtes Kind im Vorschulalter mit leichten Schwierigkeiten in der taktilen Wahrnehmung, das Unterstützung bei der Emotionsregulation benötigt, wurde in verschiedenen Institutionen als „verhaltensgestört“ oder „psychisch gestört“ bezeichnet.

> Eine einfühlsamere Sicht und die Bereitschaft zu mehr Kompromissen im Kindergartenalltag hätten dem Kind helfen können, in seinem gewohnten Umfeld zu bleiben und sich angenommen zu fühlen – stattdessen lebt es nun bis zum Schulbeginn kindegartenfrei, da sich keine ensprechende Institution finden ließ.

Ein sehr sensibler, empfindungsstarker und empathischer Junge wurde immer wieder als „Mimöschen“ bezeichnet.

> Wozu dieses Etikett, das herablassend gemeint ist? Man könnte ihn einfach positiv sehen, seine Talente erkennen und sich mitfreuen, wie detailliert er die Welt wahrnimmt – und ihn trösten, wenn er Traurigkeit empfindet.

„DER“ macht immer alles kaputt – so hart wurde über einen Jungen von seiner eigenen Großmutter geurteilt, der gerade erst 1 1/2 Jahre alt war.

> Man hätte stattdessen hinschauen können, wie seine Art ist, die Welt zu entdecken und zu spielen, und daraufhin hätte man seine Umgebung und die angebotenen Gegenstände anpassen können.

Ein 10 Wochen altes Baby wurde schon verglichen und gestempelt mit „Die hinkt motorisch hinterher!“, und es wurde von der Pekip-Gruppenleitung dringend empfohlen, das Kind ohne eigenes Zutun und ohne Freude daran viel mehr auf den Bauch zu legen.

> Tatsache ist, dass dieses Baby sich zwei Wochen später ohne Zutun alleine auf den Bauch drehen konnte, weil ihm einfach zu Hause die Möglichkeit gegeben wurde, sich zu bewegen und auszutesten und stärker zu werden – schlussendlich konnte das Kind sogar mit neun Monaten laufen. Die Gruppenleitung hätte auf Vergleiche, das harte Urteil und Anregung zu erzwungenen Positionen, an denen das Kind keinen Spaß hatte, verzichten können – ebenso aufs Sorgenverursachen bei den Eltern. Es zeigte motorische Abläufe, die komplett im Rahmen der vielfältigen Möglichkeiten in diesem Alter waren.

„Du hast es mit der Erziehung die letzten sieben Jahre halt echt verkackt.“ bekam ein Elternteil zu hören, während das Kind dabei war – ein Kind, das gefühlsstark ist und weder Druck, noch Schimpfen oder Persönlichkeitsumformung braucht und darauf nur verweigernd oder veschlossen reagieren würde.

> Alternativ hätte man sich erkundigen können, wie es dem Kind geht, was seine Persönlichkeit ausmacht, was es braucht, um in der Welt besser klar zu kommen, wie man vielleicht hilfreich sein könnte – vor allem ohne dass das Kind zuhört! Und man hätte auch hinschauen können, was am Kind und auch an der Eltern-Kind-Beziehung alles großartig ist, anstatt den Kritikstempel herauszuholen.

„“>Ihre Tochter ist sehr schüchtern, sie spricht so leise.“ wurde Eltern von der Grundschule zurückgemeldet. Dort hatte das 5-jährige Kind an einem einstündigen Unterrichtsspiel der Vorschulkinder teilgenommen – in einer vollkommen neuen Umgebung, mit fremden Menschen.

„“>Stärken sie ihr Kind, bevor es in die Schule kommt.“ hörten andere Eltern nach einem ähnlichen Termin über ihr ruhiges, schüchternes Kind, das eine Aufgabe nicht so umfangreich erfüllt hatte, weil es weniger gerne malte als die anderen anwesenden Kinder. Seine Zeichnung wurde gar zur Deutung genutzt, er sei „mutlos“ – ohne Beachtung der aufregenden, fremden Situation, und ohne das Kind wirklich kennengelernt zu haben.

> Es scheint schon fast Standard geworden zu sein, vor Schritten wie Eingewöhnung im Kindergarten oder Einschulung Persönlichkeitsmerkmale zu suchen, die nicht massenkonform sind, und um deren „Behebung“ zu bitten. Weil der Alltag dort dann einfacher wäre?! Das kann doch nicht die Grundlage sein. Die Kinder brauchen keine Schubladen. Sie sind vielfältig, jedes hat Talente, manche brauchen Hilfe in bestimmten Situationen, nicht im Vorfeld sicherheitshalber und übergreifend. Manche brauchen mehr Zeit, manche brauchen ein genaues Hinsehen und oft nur ein klitzekleines Entgegenkommen, so dass es in der Gruppe gut laufen kann. Aber das sieht man alles nicht in 60 Minuten. Eltern und Kinder brauchen Zuversicht, nicht Verunsicherung. Schon ein vorsichtiges, offenes Nachfragen kann so viel hilfreicher sein als eine Kategorisierung ohne Rücksprache.

„Du bist aber böse“ wurde zu einem 2-jährigen Kind von eine Verwandten gesagt, als es ein anderes Kind geschubst hatte.

> Immer wieder wird kleinen Kindern eine solche Boshaftigkeit unterstellt, weil viele sich nicht klar machen, dass hier noch ganz viel auf emotionaler Ebene und nicht auf kognitiver passiert: das Kind ist hilflos in der Emotionsregulation und kognitiv definitiv noch nicht so weit, so eine Handlung als „böse Tat“ zu planen. Es ist nicht gemein, sondern hilfsbedürftig! Es sollte hingeschaut werden, was der Situation vorausging und wie dem Kind in Zukunft besser geholfen werden kann, mit solchen Momenten zurecht zu kommen, ohne dass es zu körperlich wird.

„Bist du nicht schon zu alt für einen Schnuller?“

> Diese Frage an ein Kind zu richten, ist immer verunsichernd für dieses. Was soll dieses Normieren? Ist ein 13-jähriges Kind zu alt, um mit Playmobil zu spielen? Ein 40-jähriger Erwachsener zu alt für ein Tweetyshirt? Bevor solch eine Frage gestellt wird, sollte man immer nochmal einen Schritt zurückmachen. Das Kind hat den Schnuller, also braucht es ihn vermutlich. Vertraut den Familien, dass sie das im Blick haben und selbst regeln. Fragen nach der Zahngesundheit kann man ggf. einfach interessehalber den Eltern stellen.

„Da hast Du Dir ja einen ganz schönen Tyrannen rangezogen.“ kam als Vorwurf von einer älteren Dame, als ein Kind im Vorschulalter einen Wutanfall auslebte und von der Mutter dabei begleitet wurde.

> „Tyrann“ für ein Kind, das in einem Alter ist, in dem es Emotionsregulation noch lernen muss, auf Begleitung angewiesen ist und die kognitive Reifung erst am Anfang ist, ist wieder der „defizitäre Blick“, gepaart mit Vorwürfen, den niemand braucht und der niemandem hilft.

„Du bist ja unhöflich.“ wurde einem Kind entgegnet, das über eine ihr geschenkte (Zartbitter-)Schokolade an die schenkende Frau gesagt hatte:„Die Schokolade hat mir nicht so gut geschmeckt.“

> „Du bist ja ehrlich“ hätte besser gepasst. Ein genauer Blick hätte gereicht. Erwachsene, die sich von kleinen Kinden persönlich angegriffen oder beleidigt fühlen, sind nie eine Hilfe und  überschätzen die Kinder in ihrem Tun hinsichtlich Planung oder gar „Perfidität“.

„Der hat dich ja schon voll im Griff!“ hörte die Mutter eines 3 Monate alten Jungen von ihrem Onkel, weil sie auf das Babyweinen sofort reagiert hatte.

> Dabei sind Kinder angewiesen auf gute Bezugspersonen mit „bester anzunehmender Pflegekompetenz“. Das Kind ist lebenstüchtig. Es signalisiert, wenn es Hilfe braucht, und die Mutter reagiert. Auch hier wieder ist das Tyrannenbild vollkommen fehl am Platze. Bedürfnisse gilt es zu stillen, damit sie verschwinden können, und wir Eltern sind da die Experten für unsere Kinder. Ein Lob wäre angebrachter gewesen.

„Du musst jetzt mal Herr über deine Tochter werden! Die muss tun, was Du willst!“ wurde über ein Kind gesagt, das noch nicht mal 2 war.

> Aber eigentlich ist das Alter auch egal: es steckt ein trauriges Menschenbild dahinter. Ohne Miteinander und ohne Empathie, ohne Kompromisse und ohne Blick auf Beziehung und kindliche Entwicklung.

„Mangelgeburt“ brachte eine Mutter als defizitäre Beschreibung im Austausch mit mir an – das ist ein deutscher Fachbegriff, ja, aber er ist veraltet, verletzend.

> Im Englischen wird hier stattdessen davon gesprochen, dass das Baby „small-for-date“ oder „small-for-gestational-age“ sei, was viel weniger belastend klingt. Auch hier kann Sprache Wahrnehmung formen. Es geht ja nur um „kleiner als andere bezogen auf das Reifealter“.

„Im Kindergarten sollten Sie die beiden in unterschiedliche Gruppen stecken, sie sind sehr fixiert aufeinander und machen oft nur das, was der andere auch macht.“ Diese Empfehlung bekam eine Mutter für ihre 2-jährigen Zwillinge – deren Geschwisterbeziehung sie selbst als wundervoll und auch hilfreich auf dem Weg in die „Fremdbetreuung“ empfand.

> Man hätte fragen können, wie die Mutter ihre Kinder sieht, ob sie sich Sorgen macht oder es als gewinnbringend empfindet. Die Mutter hätte ihre Sicht frei schildern und das Gespräch mit einem guten Gefühl verlassen können. Ob den Kindern beim Start der Eingewöhnung seitens der Erzieher kritisch oder positiv begegnet werden kann, hängt sicher auch vom Blickwinkel in dem Vorgespräch ab.

Bei der Vorsorgeuntersuchung um den dritten Geburtstag herum wurde einem Kind ins Heft eingetragen, es sei sehr unkooperativ bei der Untersuchung gewesen.

> Die Eltern waren nicht gefragt worden, was das Kind gestört haben könnte, wie der Tag bis dahin gelaufen war, ob es schon viel hatte kooperieren müssen. Ja – im Praxisalltag ist dafür nicht immer Zeit. Und doch sollte sie da sein, bevor jemandem solch ein Stempel verpasst wird! Jeder, der dies danach lesen wird, wird ein bestimmtes Bild vom Kind vor Augen haben, und kann ihm nicht mehr vorurteilsfrei begegnen.

„Also, so langsam sollte sie sich aber mal im Griff haben.“

„Sie MUSS doch aber funktionieren!“

„Jetzt mit 5 ist es noch ok, dass sie sich viel im Unterricht bewegt, aber spätestens ab der 2. Klasse kann das nicht mehr gut gehen“

„Guck mal hier, ’ne Doku über Autisten. Ich bin sicher, J. wird später auch mal seinen Weg finden.“

„Sie ist ne ganz schöne Zicke.“

„Sie ist aber auch ein Mutterkind.“

„Das muss man ihr halt antrainieren.“

„Schläft sie immer noch nicht alleine?

„Mit einem Jahr sollte ein Kind keine Milch mehr brauchen, sondern sich langsam in die Gesellschaft einfügen.“

„Sollte er das nicht schon können?“

„Das Kind kann nur rumheulen.“

„Die spielt doch nur Theater!“

„Er wird mal ein richtig empathieloser Erwachsener!“

Wenn ich Eltern danach frage, wird die Liste immer länger. Und wir alle kennen das ja auch von uns Erwachsenen: hinterrücks beleidigen, schlecht über jemanden reden, etwas Fremdes kritisieren und gerne alles so haben wollen, wie es bei uns ist. Bei den Kindern kommt dazu, dass es oft von offiziellen Stellen kommt und dann auch tatsächlich versucht werden soll, sie in mutmaßliche Standardwesen zu verwandeln.

Hinschauen, helfen, therapieren kann großartig sein für ein Kind. Aber Dauerfeuer, ewige Kritik, jedes Niedermachen aller Schritte neben dem Mittelweg – das belastet und ist ungesund!

Was tun?

Lasst uns das umdrehen! Lasst uns Platz machen im System für jedes Kind. Wie viele passen überhaupt „in den Rahmen“? Die meisten fallen doch heraus, sind nicht Otto-Normal-Kind

Lasst uns hinschauen, auf jedes Kind, es wertschätzend annehmen und das Positive suchen! Lasst uns versuchen, die Herangehensweise zu ändern: meist ist es nur ein kleines Abrücken vom üblichen Pfad, das jedem noch so andersseienden Kind Teilhabe ermöglicht, Bestärkung gibt. Kompromisse zu finden, andere Herangehensweisen auszutesten ist nicht so viel Aufwand, wie es scheint.

Lasst uns über unsere Sprache nachdenken – bevor wir uns äußern oder etwas niederschreiben.Ist das so? Ist es nötig, das zu formulieren? Was ist das Gute an diesem So-Sein? Muss echt etwas verändert werden? Und falls ja: an welchem Rädchen muss gedreht werden – wirklich am Kind?

Lasst uns nur die Defizite so benennen, die dem Kind tatsächlich im Weg stehen – nicht die angeblichen, die von der Norm abweichen und „die Gesellschaft“ stören, nicht in die Tabelle passen.

IH

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