28 Nov

Was wollen die AP-„Jammermamas“ überhaupt?

Es kreist mal wieder ein (alter) Artikel herum, in dem etliche Male „Attachment Parenting“ auftaucht und viel Kritisches zur Sprache. Manches ist berechtigt, anderes möchte ich unbedingt von einer anderen Warte aus betrachten. Denn für mich zeigt der Artikel nicht nur mit dem Finger auf ein Problem (was ja gut ist), sondern macht auch gleich einen Schuldigen aus (die Mütter! – ja die Mütter unter Druck, aber dennoch DIE MÜTTER), und das ist mir zu simpel. Da diese Sichtweise nicht nur in diesem einen Text vorkommt, sondern mir verschiedentlich immer wieder begegnet, möchte ich das mal ein bisschen besser einkreisen.

„Viele junge Mütter geben sich selbst für das Wohl ihres Kindes auf. Das ist zwar rückschrittlich, aber es steht ihnen frei. Warum nur beschweren sie sich so laut?“

(Wenke Husmann, zeit.de)

Ich sehe zwei Vorwürfe: 1. Selbstaufopferung – im Text dann später in den Zusammenhang gebracht zum Attachment Parenting, und 2. unzufriedenes Lautwerden in Bezug auf Familienalltag – bezogen auf den nicht schaffbaren Spagat zwischen bindungsorientierter Erziehung und gesellschaftlichen Anforderungen an Frauen (Job!).

Attachment Parenting ist nicht mehr Sears & Co.

Selbstaufopferung. Es ist gut zu wissen, wie AP entstanden ist und in welchen Denkmustern beispielsweise auch Bowlby die Bindungstheorie entworfen hat, denn darin stand immer die Mutter unangefochten an der Spitze der Bezugspersonenpyramide für die Kinder. Doch das ist einfach schon lange nicht mehr State of the Art. Während sich in früheren Werken diese Denkweise immer wieder zeigte (z.B. auch noch bei Rüdiger Posth), enthalten moderne Texte zum Thema (z.B. von Nora Imlau oder Susanne Mierau) klar den Blick, das Bezugsperson sein kann, wer feinfühlig Zeit mit einem Kind verbringt und es zugewandt regulierend begleitet. Mama, Papa, Oma, Onkel, Pflegeeltern, Tagesvater, Kindergärtnerin.

Und nachdem Bowlby und seine Nachfolger (zum Glück!) damit begonnen hatten, einer Gegenbewegung zur autoritären, mitgefühlsarmen Erziehung der NS-Zeit und davor den Weg zu bereiten, entwickelten sich hieraus sehr verschiedene Strömungen. Selbstaufopfernd bis überbehütend ist ganz sicher ein Ergebnis daraus, aber ganz sicher nicht DAS Ergebnis und nicht gleichzusetzen mit Attachment Parenting bzw. auch nicht allen Eltern aufzudrücken, die „es anders machen wollen“. Sprich: Kindzentriertheit ist der wichtige, entscheidende Richtungswechsel, aber er ist nicht unabdingbar gepaart mit Selbstaufopferung!

Um diese Differenzierung geht es mir an dieser Stelle. Ja, es ist wichtig, den Finger in diese Wunde zu legen. Eltern, die AP als Selbstaufopferung verstehen, sich dem Kind unterordnen anstatt auf Augenhöhe zu gehen, Konflikte vermeiden anstatt mit dem Kind daran zu wachsen und seine emotionale und soziale Entwicklung zu stärken – diese Eltern machen es sich, dem Kind und auch dem späteren Umfeld, besonders den Schulen schwer! Das muss man ansprechen.

„Es muss einen tieferen Grund für dieses übertrieben wirkende Eingehen auf die Bedürfnisse eines Kindes geben. Denn wer würde die Mütter dazu zwingen?“

(Wenke Husmann, zeit.de)

„Übertrieben wirken“ und wirklich übertrieben sein ist hier ein Knackpunkt. Helikoptern ist übertrieben und für alle Beteiligten ungesund und entwickelt sich m.E. oft aus Ängsten, die ebenso in der persönlichen Biographie wie auch im gesellschaftlichen Umfeld liegen können (Zu Kritik an gesellschaftlichen Missständen rund um Familien komme ich im letzten Abschnitt nochmal zurück). Beziehungsorientiertes Erzieherverhalten hingegen wirkt einfach nur für viele übertrieben, die sich damit nicht beschäftigt haben oder nicht beschäftigen wollen. Früher wurde die Mütze angezogen, wenn die Eltern das gesagt haben!! Und dem Lehrer wurde nicht widersprochen!! Ja toll, war sicher viel besser… Aber ganz ironiefrei: es gibt Mittelwege zwischen dem Heli und der Peitsche. Und das ist die Beziehungsorientierung, die Bindung und die Bedürfnisse aller im Blick hat, was viel weniger stressig is als es klingen mag und was verschiedenen Studien zur Folge die höchstmögliche Wahrschenilichkeit für eine gesunde Persönlichkeitsentwicklung von Kindern mit sich bringt.

AP nun einfach gleichrangig, quasi als Synonym, zum Helikoptern dazuzupacken, ist also verkehrt und fatal. Denn das lässt ganz schnell den Schluss zu, dass wir doch lieber zurück zur machtverliebten, unempathischen Autorität gehen sollten. Da freuen sich viele! Die Tyrannen-Sager zum Beispiel. Und die Kraft dieser kindzentrierten „Bewegung“ wird gebremst.

Das kann ein/e Bindungsträumer*in natürlich nicht wollen! Aber das ist auch nicht das, was ich beim Großteil der Eltern wahrnehme. Diejenigen, die sich interessieren für entwicklungspsychologische Sachverhalte, für Möglichkeiten des Kompromisseschließens, für lösungsorientierte Konfliktführung u.v.m., die also beziehungsorientiert mit ihrer Familie leben, sind in meinem Erleben immer großartiger aufgestellt, denn Väter wie Mütter ziehen an diesem Strang, informieren sich, engagieren sich, richten ihren Alltag immer fairer aus. Der Weg ist noch lang, ganz bestimmt (siehe Erfolg der Mental Load Bücher dieses Jahr), aber es ist auch schon ganz schön viel Gutes passiert. Im Übrigen nicht nur in Doppelakademiker-Elternhäusern.

Und das fusst sicher auf AP und Bindungstheorie – und das dürfen wir uns nicht schlecht reden lassen!

Da ist keine Selbstaufopferung, sondern ein Bewusstsein für die Gleichwertigkeit der Kinder, für ein Bekämpfen von Adultismus, für eine kindzentriertere Welt, aber auch für ein Beachten der persönlichen Bedürfnisse aller (!) Familienmitglieder bis hin zu denen aller Menschen. Das ist doch großartig! „Erziehung prägt Gesinnung“ – lest Renz-Polster und versteht die politische, gesellschaftliche Dimension dieser Haltung unseren Kindern und unseren Mitmenschen gegenüber (ein Gedanke, der übrigens auch schon Bowlby antrieb!)

Und im Alltag bedeuten häufig gelebte Wege wie Tragen, Stillen, Familienbett, die im o.g. Artikel als selbstaufopfernd beschrieben werden, übrigens ganz oft genau das Gegenteil: Eigentlich ist das alles was für „faule“ Eltern. Für Eltern, deren Kinder diese Bedürfnisse zeigen und die dies simpel beantworten, ohne viel Extraaufwand: Komm in die Trage, an die Brust, in unser Bett. Und wenn einer vo uns merkt, das passt nicht, dann finden wir gemeinsam einen anderen Weg. Das ist AP für uns und für viele andere auch.

Exkurs: Ratgeberschelte

Zwischendrin werden im o.g. Artikel noch Ratgeber zum Thema bekrittelt. Auf die Menge, die manches Elternhaus im Regal stehen hat, kann man sicher verwundert schauen und die verlorene Intuition bemängeln (Haben wir auch schon!), aber sie abtun mit „Die vermitteln Grundlagen und sagen am Ende ‚Du machst das schon!‘ „, sind also eher nur Schulterklopfer, finde ich verkehrt.

Sehr viele Mütter und Väter wünschen sich Hilfe beim Austausch untereinander und konkrete Ideen, wie man angesichts des entwicklungspsychologischen Wissens im Alltag dies oder das tatsächlich lösen kann. Und das beinhalten ganz viele dieser Bücher sehr zugewandt und undogmatisch. Diese Wertschätzung fehlt mir hier.

Und ist nicht jede einzelne Familie, in der der Alltag als glücklicher empfunden wird, ein Argument für ein Buch?

„Jammermamas“

Unzufriedenes Lautwerden in Bezug auf Familienalltag. Schauen wir uns das mal genauer an:

„Unsere Gesellschaft tut daher viel, damit diese Bindung von Anfang an wachsen kann.“

(Wenke Husmann, zeit.de)

Da wird etliches aufgezählt, das auch sehr richtig und wichtig ist, aber im echten Alltag eben oft ganz anders abläuft. Schon mal versucht, einen guten Kursplatz zu bekommen, einen schnellen Beratungstermin mit längerer Begleitung? Bezahlbar? Eine kindzentrierte Eingewöhnung zu finden, bei der das Personal geschult, gesund, ausreichend vorhanden (oder gar fair bezahlt) ist?

Und da soll man sich nicht beschweren dürfen? Warum nicht, frage ich mich?

„…bis die Eltern sich zu ihrem eigenen Stil durchgejammert haben.“

(Wenke Husmann, zeit.de)

Bei solch einer Wortwahl sehe ich tatsächlich die Gefahr, die auch rund um die politischen, Familien betreffenden Entscheidungen in der Corona-Zeit immer wieder zu spüren war: Eltern werden diskreditiert, klein geredet. Familie als Privatvergnügen. Stellt Euch nicht so an! Ihr habt es Euch doch ausgesucht!

Nein, nein, nein, das ist nicht okay! Es wird nicht gejammert. Es wird gefragt, kritisiert, man lässt sich Dinge nicht einfach gefallen. Eltern werden laut (Grüße an die Blogfamilia-Community!) und zwar zurecht.

Wenn uns das laute Jammern ob der Anstrengung des Attachment Parenting etwas zeigt, ist es dies: Der Druck, arbeiten gehen zu müssen – und damit ist nicht der wirtschaftliche Druck gemeint, den es natürlich auch gibt, sondern der soziale –, dieser Druck ist auf ausgebildete, urbane junge Frauen immens.

(Wenke Husmann, zeit.de)

Und hier sind wir am Kern meines Unbehagens mit diesem Text: Das „Jammern“ oder besser das offene, laute Kritisieren durch Eltern…

  • …geht nicht gegen Attachment Parenting, sondern trifft nur da zu, wo Eltern überbehütend und selbstaufopfernd agieren – weil sie nicht ausreichend geschult und begleitet werden; AP selbst ist nicht das Fallbeil über den Familien, sondern die Basis für eine wichtige Veränderung, die aber bislang nicht auf passende politische Unterfütterung trifft.
  • …bezieht sich nicht auf den Druck, die gesellschaftlichen Veränderungen hinzu mehr Geschlechtergerechtigkeit mitmachen zu müssen, sondern darauf, dass die politischen Lösungen diesen Veränderungen viel zu langsam gerecht werden.

Der Blickwinkel im Text verhindert m.E. das wir sehen können, wie wertvoll Beziehungsorientierung hier zu Lande für die Kinder, die Kinderrechte, die Gesellschaft ist sowie dass die Politik hier große Versäumnisse zeigt – nicht die Eltern oder die Mütter.

„Früher gab es gesellschaftlichen Druck in Richtung Hausfrauenehe. Jetzt gibt es gesellschaftlichen und politischen Druck in Richtung Berufstätigenehe. Freiheitlich ist beides nicht.“

(Leserzitat auf zeit.de)

Hier gehe ich voll mit: Wahlfreiheit fehlt. Attachment Parenting wird hier als vorgeschobenes Argument gesehen, mit dem Mütter sich Wahlfreiheit möglich machen können. Den Gedankengang verstehe ich und ähnliches ist mir auch schon begegnet. Den Druck, einen Weg zu gehen, der sich eigentlich nicht gut anfühlt, erlebe ich immer wieder in Beratungen.

Aber wieder: das Gros der AP-Familien, die ich kenne, lebt es anders. Sie brauchen keine Ausreden und wählen die Erzieherhaltung nicht aus Selbstschutz, sondern sehr bewusst. Sie wollen kein Entweder / Oder und zurück der Frauen an den Herd. Nicht mal vorgeschoben.

Sie wünschen sich Arbeitgeber, die Väter stärken, die einen beziehunsgorientierten Weg selbstverständlich mitgehen wollen. Und Kindergärten und Schulen, die personell und finanziell so ausgestatt sind, dass Bindungsarbeit möglich ist. Lehrpersonen, die mit dem Wissen in den Schulalltag gehen, dass sie nicht nur Wissen vermitteln müssen, und die fähig sind, Bindungsarbeit umzusetzen. Diese Eltern wünschen sich einen gesellschaftlichen Rahmen, der Wahlfreiheit zulässt und aber auch jeden Weg stützt, ohne die Bedürfnisse der Kinder wieder wie früher hinten runterfallen zu lassen.

Und ich wünsche mir selbstbewusste „Jammermamas“ und Papas, die nicht müde werden, das zu fordern!

IH