Was geschieht im Gehirn eines Kleinkindes – laut der Wissenschaft
Originalartikel: What’s Going On Inside A Toddler’s Brain, According To Science von Patrick Sauer, September 2016 (übersetzt von Kerstin Vetterlein, Mitglied bei Bindungs(t)räume).
Weisst Du nicht, dass meine Welt Kopf steht?
Was geschieht im Gehirn eines Kleinkindes – laut der Wissenschaft?
Als Vater eines Kleinkindes versucht Dein großes erwachsenes Gehirn immer nachzuvollziehen, was wohl gerade durch die kleinere Version Deines Kindes geht.
„Warum schmeißt Du Dich auf den Boden?“
„Warum beißt Du mich ohne ersichtlichen Grund?“
„Warum machst Du Dir in die Hose und schaust mir dabei noch in die Augen?“
Das größte Problem ist, dass Du nicht weißt, was sie gerade denken und dass sie es Dir noch nicht sagen können. Aber die Wissenschaft kann.
Dr. Dean Burnett, ein Neurowissenschaftler/Neurologe (und Autor von Idiot Brain und Guardian Kolumnist) sagt, dass die frühe Entwicklung des Gehirns faszinierend sei, weil alle Verknüpfungen, die im weiteren Leben benötigt werden, sich formen und zusammenkommen. Dr. Burnett ist Vater eines 4-jährigen Sohnes und einer 1-jährigen Tochter, so dass man praktisch von angewandter Wissenschaft sprechen kann. So folgt nun die Erklärung, warum die sich noch formende „graue Materie“ Deines Kindes sein Verhalten alles andere als schwarz-weiß erscheinen lässt.
Dein Kind ist wie Dory von „Findet Nemo“
Erwachsene haben mentale Modelle basierend auf Erfahrung und der Erinnerung, wie Dinge funktionieren sollten. Diese funktionieren als Schema, um Situationen einzuschätzen. Kleinkinder haben dies nicht. „Alles ist für Kleinkinder neu und spannend. Sie haben keinen reichen Erfahrungsschatz, der Ihnen hilft Dinge einzuschätzen.“ sagt Dr. Burnett. Tatsächlich sind Kinder unter 7 Jahren darauf „programmiert“, nicht zu viele Erinnerungen zu speichern. Und da sie nicht Arnold Schwarzenegger sind, kannst Du nicht erwarten dass Dein Kind totale oder auch nur teilweise Erinnerung hat (n.b. „Total Recall).
Wiederholung vs. Verständnis
Das Gehirn wächst nicht in genau der gleichen Art und Weise wie der restliche Körper. Ein Kind kann durch Wiederholung lernen zu krabbeln, aber das bedeutet nicht, dass es verstehen wird, warum es notwendig ist, Schuhe anzuziehen. Was Kleinkinder jedoch verstehen ist, dass etwas anders ist als am Tag zuvor – es irritiert sie. „Es sind noch nicht alle Verknüpfungen in ihrem Gehirn fertig“, sagt Dr. Burnett. „Wenn ihre Erwartungen sich nicht erfüllen, fühlt es sich an, als hätten sie die Kontrolle verloren. Sie wissen nicht, wie sie reagieren sollen, werden gestresst und rufen Alarm, weil wir ihnen den roten Becher anstatt dem grünen gegeben haben.“ (Ehrlich, der rote Becher ist viel besser!)
Kleine Gehirne arbeiten doppelt so hart
„Tatsächlich gibt es wesentlich mehr Verknüpfungen in einem kindlichen Gehirn als in einem erwachsenen“, sagt Dr. Burnett. „Es dauert bis zur Pubertät, bis diese wieder langsam reduziert werden. Dabei beginnt das Gehirn Erinnerungen zu löschen, die nie abgerufen werden, um effizienter zu sein.“ Ja, Dein Kleinkind hat zu viel zu verarbeiten – nicht zu wenig. Das sollte Euch bewusst sein. Umgekehrt sortieren Teenager tonnenweise aus, weshalb sie immer schlafen, anstatt den Rasen zu mähen.
Es geht immer um Kampf oder Flucht
Tief in unserem Gehirn gibt es ein Sicherheitssystem – in der Nähe des Hippocampus – welches das „Kampf oder Flucht“ Programm aufruft wenn, der Stresslevel hoch ist. Manche der möglichen Gefahren, die es zu vermeiden gilt, sind ein Teil der Evolution (Spinnen, Schlangen), während andere erlerntes menschliches Verhalten sind (Achterbahnen, Phish-Konzerte). Das Gehirn eines Kleinkindes erkennt nicht den Unterschied. Was für uns Erwachsene harmlos ist, ist es nicht automatisch auch für Kleinkinder. „Sie wissen nicht, dass etwas harmlos ist, sie wissen nur, sie kennen es nicht, was sie aus dem Konzept bringen kann“ sagt Dr. Burnett.
Die Evolution des Schreiens
Das Ausrasten Deines Kleinkindes über vieles (alles?) ist völlig normal und zu erwarten. Es ist eine Form der Selbsterhaltung. „ Aus evolutionärer Sicht ist es ein Grund des Kindes zu schreien und einen Wutanfall zu bekommen, die höchstmögliche Aufmerksamkeit eines Erwachsenen in einer Gruppe oder Gemeinschaft zu bekommen.“ Sagt Dr. Burnett. Jammern und um sich schlagen kann einerseits einen Angreifer verscheuchen und andererseits einen Erwachsenen herbeirufen, weshalb das Schreien ein biologisches Muss ist. Diese spannende wissenschaftliche Erkenntnis kannst Du teilen, wenn Du Dein Kind das nächste Mal mit in ein Flugzeug nimmst.
Sie schmecken Brokkoli anders
Wir allen möchten, dass unsere Kinder gute Esser sind. Aber es gibt einen tieferen Grund, warum Kinder den Geburtstagskuchen der Brokkoli-Quiche vorziehen. „Kleinkinder haben andere Geschmacksempfindungen, Essen kann für sie ein breiteres Geschmackserleben sein, so dass Spinat und Brokkoli für sie bitterer oder schärfer schmeckt“, sagt Dr. Burnett. „Im Gegensatz zu Eis, welches voller Zucker steckt. Das Gehirn mag es, weil es viel Energie liefert, daher will es das untersuchen“. Na dann, wenn die Natur möchte, dass ich diesen Donut esse….
Die Vergangenheit wiederholt sich – nur lauter
Du dachtest, wenn Dein Kind langsam dem Kleinkindalter entwächst, wird alles etwas reifer und erwachsener. Falsch. Weil Ihr Gehirn nach und nach mehr bleibende Erinnerungen abspeichern, kann es im Gegenteil noch schwieriger werden. „Im Alter von etwa 5 Jahren haben Kinder ein grundlegendes Verständnis, was dazu führen kann, dass Gefühlausbrüche verstärkt werden, weil sie ein Gefühl dafür haben, wie die Dinge laufen könnten.“ Sagt Burnett. Wutausbrüche werden vermutlich seltener, aber allererste Sahne, weil Kinder, wie Erwachsene, ihre Wut verarbeiten müssen. Hier zeigt sich der Unterschied zwischen einem Kleinkind, das für eine Minute zusammenbricht, bevor es von einem glitzernden Gegenstand abgelenkt wird, und einem Kindergartenkind, dessen gesamte Welt zusammenbricht wenn Du „Doc McStuffins“ (Kinderserie) ausschaltest.
Was ich von „Good Will Hunting“ gelernt habe
Der Kopf eines Kleinkindes ist ein komplexer Ort. Denk immer daran, wie chaotisch es in Deinem fertig ausgebildetem Gehirn sein kann – und Du hattest 30 bis 40 Jahre Zeit, Dich daran zu gewöhnen. Dr. Burnett sagt, alle Eltern sollten sich vor Augen halten, dass es nicht ihre Schuld ist. „Sie meinen es nicht so“ sagt er. „Sie wollen uns nicht absichtlich die ganze Nacht wach halten, den gesamten Terminkalender durcheinander bringen oder bewusst unser Leben schwer machen.“ Oder vielleicht hat die Wissenschaft den wahren Sinn bisher einfach noch nicht erkannt….