25 Aug

Unser tief verwurzeltes Bedürfnis nach Bindung

Warum ist die Welt, warum sind wir, wie wir sind? Spannenden Fragen hinterherzuforschen und darüber zu schreiben, hat Ulrike Légé schon als Schülerin geliebt. Um ihre Freude daran zum Beruf zu machen, hat sie an der Universität Hamburg ihr Studium der Biologie und Kommunikationswissenschaft abgeschlossen. Ulrike arbeitet seit 2014 freie Autorin und hat sich spezialisiert auf Familienthemen für Printmedien und Blogs. Mit ihrer Familie, dem Labradoodle Sunny und einer kleinen Herde Kaninchen lebt sie in der Nähe von Basel, wo ihr dank ihrer drei Kinder die spannenden Fragen nicht ausgehen.

Zusammen mit Fabian Grolimund hat sie gerade das Buch „Huch, die Angst ist da!“ (hogrefe) veröffentlicht, mit dem Kinder gemeinsam mit ihren Eltern aktiv an Ängsten arbeiten können. Für Bindungs(t)räume schreibt sie einen (evolutions-)biologischen Blick auf den Sinn von Bindung und beziehungsorientierter Erziehung.

Ist bindungsorientiertes Erziehen nur ein kurzlebiger, neuer Trend, wie Kritiker behaupten – oder ein zentraler und wertvoller Teil von unserem biologischen Erbe, ohne den wir uns als moderne Menschen nie entwickelt hätten? Ein Blick auf unsere nächsten Verwandten, zurück in unsere Evolution und Menschheits-Geschichte kann uns helfen, das Bedürfnis nach sicherer Bindung besser einzuordnen und selbstbewusster dafür einzutreten.

Jedes Mal, wenn ich die junge Mutter Fifi mit ihrem Sohn Quebo sehe, fällt mir auf, wie wunderbar unkompliziert die beiden ihre enge Bindung leben dürfen: Niemand kritisiert Fifis Entscheidung, Quebo mit knapp zwei Jahren noch rund um die Uhr zu stillen, viel herumzutragen und nachts an sie gekuschelt schlafen zu lassen. Niemand warnt Fifi, ihren Sohn nicht zu verziehen, damit er kein kleiner Tyrann wird.

Im Gegenteil, ihre Verwandten und Freunde betrachten die beiden wohlwollend und sind jederzeit bereit, bei der Erziehung des Kleinen mitanzupacken. Quebo habe ich noch nie verängstigt, verzweifelt oder alleingelassen gesehen. Und sehr wahrscheinlich wird er auch weiter genauso glücklich, eng und sicher gebunden aufwachsen können.

Denn Fifi und Quebo sind Schimpansen und wohnen im begrünten Gehege des Basler Zoo. An ihnen können wir sehen: Bindungsorientiertes Erziehen ist keine neue Mode, sondern im Gegenteil die älteste und natürlichste Art, Kinder ins Leben zu begleiten. Denn während der 13 Millionen Jahren langen Evolution von Menschen und Menschenaffen hat es sich als Vorteil erwiesen, wenn Eltern verlässlich und einfühlsam eingingen auf das Bedürfnis ihres Nachwuchses nach Bindung.

 

Eltern-Kind-Beziehung braucht so viel mehr als nur Nahrung

Lange waren Wissenschaftlern überzeugt, dass Babies sich nur ihren Müttern zuwenden würden, um Nahrung zu bekommen. Doch das Psychologen-Ehepaar Harlow beobachtete in den 1950er Jahren junge Rhesusaffen, die ohne Mutter aufwuchsen. Gab man ihnen die Wahl, klammerten sich die Äffchen lieber an eine warme Stoffattrappe, bei der sie nicht trinken konnten, als an eine harte Drahtfigur mit einer Milchflasche. Fühlten sich die Affenbabys erschreckt, flüchteten sie sich in die weichen Stoff-Falten, denn sie brauchten das Gefühl der körperlichen Nähe für ihre Entwicklung.

Aus ethischen Gründen würden solche Isolations-Experimente heute nicht mehr erlaubt, denn sogar Jungtiere, die mit weichen Stoff-Attrappen aufwuchsen, litten später unter schweren und unumkehrbaren Verhaltens-Auffälligkeiten: Ihnen fehlten die echte Bindung und Geborgenheit. Am dramatischsten zeigte sich dies, als die Versuchstiere Eltern wurden. Nachdem sie selbst nicht sicher gebunden aufwachsen durften, vernachlässigten und misshandelten die Affen ihre eigenen Kinder, die deutlich seltener überlebten.

Der Kinderpsychiater John Bowlby und die Psychologin Mary Ainsworth begannen einige Jahre später damit, die Wichtigkeit der sicheren Bindung auch für Menschen zu erforschen. Allerdings mussten sie mit heftigem Gegenwind aus Forschung und Praxis kämpfen. Denn bis weit in die 60er Jahre war umstritten, ob Menschen-Babies und Kinder wirklich litten, wenn sie beispielsweise für Krankenhaus-Aufenthalte wochenlang von ihren Eltern getrennt würden. Ohne die Harlowschen Affenversuche, so Bowlby und Ainsworth, wäre ihre Bindungstheorie wohl nie wissenschaftlich anerkannt worden.

Bindungssicherheit zum Überleben

Heute wissen wir dank moderner Untersuchungen unserer Gehirne und Botenstoffe, den Neurotransmittern und Hormonen, dass wir Menschen – ebenso wie Affen und viele andere höhere Tierarten – von unserer Biologie her auf Bindung gepolt sind: Das Bindungshormon Oxytocin wird bei der Geburt, beim Stillen, Tragen und Kuscheln freigesetzt und sorgt für ein Gefühl der Verbundenheit. Es verändert unser Verhalten, macht uns zugewandter und einfühlsamer – und es löst einen positiven Kreislauf aus: Unter dem Einfluss von Oxytocin suchen wir nach Nähe und Bindung, die Nähe und Bindung wiederum sorgt für einen weiteren Ausstoß des Hormons.

Aber was könnte, biologisch betrachtet, der Vorteil dieser Bindungsfähigkeit sein? Bowlby und Ainsworth vermuteten zunächst, dass es sich um einen reinen Schutzmechanismus handelt. Denn Menschenkinder sind extrem verletzlich und bedürftig. Zudem bekommen wir Menschen nur wenige Kinder in großen, durch das Stillen bestimmten Zeitabständen und müssen in die Pflege unseres Nachwuchses sehr viel Energie investieren. Umso wichtiger ist es, dass möglichst viele Kinder überleben.

Während den ersten 300000 Jahren der Menschheitsgeschichte lebten unsere Vorfahren in einer gefährlichen Welt, in der Kinder und Erwachsene tagtäglich verhungerten, erfroren, gefressen wurden oder an Krankheiten starben. Kaum ein Baby hätte damals überleben können, ohne aktiv die Nähe der schützenden Erwachsenen zu suchen und wenn nötig auch durch lautes Weinen darauf zu bestehen – oder ohne Bezugspersonen, die verlässlich darauf reagierten.

Kinder haben dank einer sicheren Bindung also bessere Chancen zu überleben. Neuere, artübergreifende Studien an Affen und Menschen zeigen darüber hinaus, dass sicher gebundene Kinder ihre Eltern genauer beobachten und daher besser lernen. Das ist besonders wichtig für Arten, deren Gehirn hochentwickelt ist und über eine lange Zeit der Erziehung sehr aufnahmefähig, neurobiologisch gesprochen „plastisch“, bleibt. Und für Arten, die hochentwickelte, strategische Handlungsweisen an ihre Kinder weitergeben müssen.

Bindung als Basis für den Lebensweg

Beides trifft für uns Menschen zu: Während der langen Zeit, die unsere Kinder zum Selbstständig-Werden brauchen, kann sich ihr Gehirn anpassen. Sie lernen, sich in so verschiedenen Gruppen wie Nomaden, sesshaften Bauern oder einer Dienstleistungs-Gesellschaft richtig zu verhalten. Sie beobachten und imitieren uns Eltern so intensiv, dass sie unterschiedliche Werkzeuge bedienen, Denkweisen verstehen und kulturellen Normen folgen können. Ohne unsere Bindungsfähigkeit, so die heutige Hypothese der Forscher, hätten wir Menschen nie so erfolgreich den gesamten Planeten vom glutheißen Äquator bis zum eiskalten Nordpol besiedelt können.

2006 schrieb die Psychologin Harriet Smith das Buch „Parenting for Primates“ über die Gemeinsamkeiten zwischen Affen- und Menschen-Eltern. Aus Hunderten von Studien, vor allem aber beim Beobachten der 50 verwaisten Tamarin-Äffchen, die sie selbst großgezogen hatte, zog Harriet Smith das Fazit: Nur wenn junge Primaten-Eltern bei erfahrenen Familien lernen dürfen, wie man seinem Nachwuchs einfühlsam Zuwendung gibt, können Babys körperlich und seelisch gesund aufwachsen.

Tief in uns verwurzelt ist also nur die grundsätzliche Fähigkeit zur Bindung. Wie genau wir aber als Eltern konkret handeln müssen, das müssen wir von anderen bindungs-geübten Erwachsenen lernen. Bindung muss aktiv weitergegeben und geübt werden. So schließt sich ein Kreis, der Geborgenheit, Überleben und Lernen ermöglicht, der schon seit langer Zeit Motor unserer menschlichen Entwicklung als Individuen und als Art ist.

Fifi und Quebo wissen davon nichts. Sie genießen ihre enge Verbundenheit ganz selbstverständlich, bis Quebo alt genug ist, in die Gruppe der erwachsenen Schimpansen des Basler Zoo integriert zu werden und Fifi ihr nächstes Baby ebenso bindungsorientiert erziehen wird. Sie zu sehen, gibt mir neues Selbstbewusstsein: Auch als Menscheneltern können wir uns darauf verlassen, dass sich Natur und Evolution nicht geirrt haben. Eine sichere Bindung ist das Natürlichste und Wertvollste, das wir unseren Kindern mitgeben können.

 

Ein Gedanke zu „Unser tief verwurzeltes Bedürfnis nach Bindung

  1. Pingback: Wie Tagebuch schreiben die Bindung zu deinem Kind stärkt - bindungstraeume.de

Kommentare sind geschlossen.