Der Wichtel mit dem kalten Herz
Liebe L. S.,
mein Name ist Linda, und ich bin ein Weihnachtsengel. Ich arbeite in der Werkstatt des Weihnachtsmanns. Hast Du schon mal davon gehört? Hier werden tolle Sachen gebastelt, gebacken, getischlert, dekoriert… Wir sind ein riesiges Team. Bei uns gibt es nicht nur Engel wie mich, sondern auch Zwerge mit langen Bärten, Gnome mit lustigen Nasen, Elfen mit spitzen Ohren, Trolle (mit schrecklich vielen schleimigen Popeln in der Nase – darum dürfen die auch nicht backen!) und viele, viele winzig kleine Weihnachtswichtel. Die haben so kleine Hände, dass sie manche Dinge nicht gut machen können, bei anderen aber wiederum nahezu perfekt sind. Zum Beispiel rollen sie die klitzekleinen Zuckerperlen, die ich so gerne in kunterbunten Farben auf meine Plätzchen streue. Und sie schreiben auch wunderbare Briefe an Euch Menschenkinder.
Normalerweise zumindest. Denn eigentlich sind alle Wichtel ganz, ganz wunderbare Beobachter und Briefeschreiber. Sie erzählen den Kindern, was sie gesehen haben, was sie spüren: nämlich wie toll die Kinder sind, mit all‘ ihren Fertigkeiten, Wundern und auch Ecken.
Aber zwischen all‘ diesen Wichteln ist auch der kleine Splint tätig. Hast Du schon mal von ihm gehört? Splint ist der einzige der Wichtel, der kein warmes Herz hat und dem es schwerfällt, die Welt in all‘ ihrer Schönheit zu sehen. Aber: Splint kann gar nichts dafür. Das ist eine recht traurige Geschichte.
Splint kam als kleiner Wichtel zur Welt und war wonnig und liebenswert, wie alle Wichtel. Doch bald nach seiner Geburt – keiner weiß mehr wieso – kam er in die Eiswelt. Ohne Eltern. Ohne Geschwister. Dort umgab den kleinen Splint nur Eis, und er wurde von hellblauen, fast durchsichtigen Wesen erzogen, unter deren Brust ein eiskaltes, verbittertes und dunkelblaues Herz pochte.
Sie hatten nie ein liebes Wort für Splint übrig. Er musste immer nur gehorchen, wurde geschimpft und geschubst, musste fleißig sein – und war es auch – aber wenn ihm doch mal ein Fehler passierte, wurde er hart zurechtgewiesen. Das alles tat ihm erst sehr weh, und er war sehr traurig. Aber irgendwie musste er das aushalten, und so wurde er immer mehr wie die Eiswesen: sein Herz wurde hart und kalt und dunkelblau. Wenn man genau hinsieht, sieht man das heute noch unter seinem weißen Hemdchen. Sogar sein Gesicht wurde immer bläulicher vor Frost in seinem Bauch.
Eines Tages, als er wieder mal lautstark von einem der Eiswesen niedergebrüllt worden war, weil ihm ein Eimer Fisch umgefallen war, konnte er es nicht mehr ertragen. Die Erinnerung an seine liebevolle Familie war noch irgendwo ganz tief in ihm verborgen, und diese zog ihn hinaus aus der Eiswelt. Er lief und lief. Durch einen Schneesturm. Rutschte mit einer Lawine. Kletterte über Schneefelder und Eiszapfenparcours. Bis er an einem Abhang ins unkontrollierte Purzeln kam und fiel und rutschte und plumpste…dem Weihnachtsmann vor die Füße.
Der Weihnachtsmann mit seinem flauschigen Bart und den weiten, samtigen, roten Kleidungsstücken zog sich einen Handschuh aus und nahm den kleinen, bläulichen Splint auf seine warme Hand. Liebevoll schaute er ihn an und erkannte, dass plötzlich ein Schimmer Hautfarbe zurück in Splints wasserblaues Gesicht kam. Der Weihnachtsmann sah den guten Kern seines frostigen Herzens – und Splint fühlte die Wärme und war sofort geborgen.
So kam Splint zu uns Engeln und Zwergen und Gnomen und Trollen und Elfen in die Weihnachtswerkstatt. Die anderen Wichtel begrüßten ihn liebevoll, und so konnte auch er mit der Zeit immer liebevoller werden. Er ist jetzt ein glücklicher Wichtel. Nur wer es weiß, sieht sein blaues Herz noch leicht durchscheinen. Aber er selbst leidet noch manchmal an seinen Erinnerungen und den Resten an Frost in seiner Brust. Dann passieren ihm Dinge, die nicht so schön sind. Dann zankt er den Weihnachtsmann und schreibt über großartige Kinder fiese Sachen als kleine Notizen ins Geschenkebuch. Oder er tut Pfeffer in meine Kekse. Und einmal hat er auch gemeine Briefe geschrieben und sie in einem Adventskalender versteckt. Das Kind, das sie vorgelesen bekam, hat die Welt nicht mehr verstanden: wieso war da so viel Gemeinheit drin? Advent, Weihnachten, Wichtel – das sind doch alles Dinge, die voller schönem Zauber und Liebe stecken sollen.
Das Kind wusste nicht, dass hinter dem Brief der Wichtel Splint steckte, der eigentlich ein wundervoller Weihnachtsmannhelfer ist – aber dem manchmal der Frost von früher wieder zu Kopf steigt, so dass er solche verrückten Dinge tut.
Hinterher tut es Splint fast immer leid, denn er möchte eigentlich nur fröhliche Kinderaugen sehen und die kleinen Menschen glücklich machen. „Ach, könnte ich mein blaues Herz doch endlich ganz loswerden!“ denkt er dann.
Ich weiß nicht, ob er das jemals schaffen wird, aber wir Engel helfen ihm dabei, erzählen ihm, wenn er wieder etwas Verrücktes gemacht hat, und helfen ihm, zu verstehen, dass das nicht nett war. Er kann es immer besser begreifen, und manchmal entschuldigt er sich dann sogar. Und immer hofft er auf kleine Briefchen von glücklichen Kindern, die ihm einen Kuss aufs Papier drücken und zusenden. Denn all‘ diese Küsse machen sein Herz stetig ein wenig mehr warm.
Frohe Weihnachten!
Deine Linda
IH
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