20 Aug

„Mit besonderen Bedürfnissen“ in die Welt!

Als ich zur Schule ging, habe ich die Vokabel „disabled“ für „behindert“ gelernt. Gestern sollte ich meinen Sohn in Englisch abfragen, und in seinem Buch steht stattdessen der Ausdruck „with special needs“. Das brachte mich zum Nachdenken und nachlesen. Wie in vielen Bereichen gibt es auch hierzu spannende Diskussionen: Was ist der passende Asudruck? Was beschreibt das Gemeinte treffend, ohne verletzend zu sein? Sind alle Gemeinten miterfasst?

Handicapped, physically challenged, people with disabilities, mentally challenged – etliche Ausdrücke sind mir da begegnet, wurden mir Pro und Contra betrachtet, und die Diskussion will ich hier gar nicht weiterführen. Mir blieb einfach das „with special needs“ so hängen – mit besonderen Bedürfnissen.

Warum?

Weil dieser Punkt so sehr einen großen Bereich meiner Arbeit trifft: Eltern, die zu mir in die Beratung kommen, nehmen ihr Kind oft wahr als besonders in einem bestimmten Bereich, was sich in der Regel als emotionale Entwicklung entpuppt. Sie sehen, dass es anders reagiert oder handelt als das Gros der Gleichaltrigen, und möchten

  • dass das besser wird
  • dass sie dies besser händeln können
  • dass es weniger Konflikte deshalb mit dem Umfeld gibt

Hinzukommt, dass sie sich oft sorgen, ob etwas besonders im Argen liegt. Ist das noch normal oder schon im Bereich der Störungen??

Das ist ein weites Feld. Ich schaue dann mit den Familien zusammen hin, und in der Mehrzahl der Fälle zeigt das Kind einfach eine persönliche Grundstruktur, die nicht easypeasy händelbar ist, sondern besondere Umgangsweisen sinnvoll erscheinen lässt, aber nicht total selten oder gar behandlungsbedürftig ist. (Das heißt, „das“ wird nicht „besser“, es wird anders, weil unser Kind und wir kompetenter werden.) Wir sind heute viel weiter im Blick auf unsere Kinder als vor 20, 30 Jahren. Wir wissen dass es nicht nur normal/gesund und zusätzlich noch die fragwürdigen Zappelphilippe oder Rockzipfelkinder gibt, sondern ganz viel dazwischen und alles ist okay. Gefühlsstark, schüchtern, hochsensibel, extrem lebenslustig – Kinder sind bunt und sollen es sein.

Pass dich bitte an!

Theoretisch. Das weiß die Entwicklungspsychologie, aber lebt es „die Gesellschaft“ im Alltag? Oft leider eher nicht. Viele Ärzte, Pädagogen, Journalisten usw. haben noch immer die Erwartung, dass Kinder in Schemata gehören (gepresst werden müssen, aber das ist nicht immer so bewusst), und wenn sie zu sehr abweichen liegt es am fehlehrfhaften Erziehungsverhalten der Eltern.

Klar, auch das gibt es. Zu behütend, zu gefühlskalt, zu ignorant. Aber das ist bei den meisten Eltern, die sich intensiv mit Bindung und Beziehung und dadurch auch mit entwicklungspsychologischen Inhalten befassen (super aufbereitet durch Autoren wie Katja Seide, Danielle Graf, Nora Imlau, Susanne Mierau, Herbert Renz-Polster, Katharina Saalfrank u.a.), nicht der Fall! Stattdessen ist es so, dass sie die besonderen Bedürfnisse ihrer Kinder sehen und beachten möchten. Und dass sie einfach oft Unterstützung suchen, um das gut hinzubekommen, ohne auch sich selbst darüber zu vergessen.

Das ist ein guter Weg! Für mich der einzig richtige. Und vielleicht wird er in Jahren oder Jahrzehnten endlich dazu führen, dass sich auch Kindergärten, Schulen, die Ausbildung von Ärzten und Pädagogen usw. verändern (Ich hoffe es!). Aber noch ist es vielfach nicht der Fall.

Persönlichkeitsentwicklung nach dem eigenen Naturell – natürlich auch sozial verträglich

Und hier gefällt mir der Ausdruck „with special needs“ so gut. Vorm geistigen Auge sieht man zunächst einen Mann mit Blindenstock, eine Frau im Rollstuhl, ein Kind mit Hörgeräten. Sichtbare „needs“. Mein Kopf sieht aber dann noch viel mehr: ein Kind, dass wenig terminliche Verpflichtungen braucht, ein Kind, dem Visualisierung von Regeln hilft, ein Kind, dass enge Begleitung und Regulationshilfe benötigt, ein Kind, dem besonders intensiv gezeigt werden muss, wie es Wut gut ableiten kann usw.

Und sie alle sind nur „disabled“ an Punkten, wo ihr Umfeld nicht auf sie eingeht oder eingehen kann: an der Ampel ohne Tonsignal, am Treppenaufgang ohne Rampe, am Nachrichtenbeitrag ohne Gebärdendolmetscherin. Und eben je nach Ausgangslage auch bei Eingewöhnung nach Standardvorgaben, durch eng getaktete Tage, bei Schulklassen mit 30 Kindern, bei Familienfeiern mit stundenlangem Essen im Sitzen, in beängstigenden Schlafsituationen, durch unsere falschen Erwartungen…

Sprich: viele haben besondere Bedürfnisse und werden auf ihrem Weg behindert. Manches davon ist nicht zu ändern, aber vieles doch. Und es sollte normaler werden, dass alle Ämter und Bahnsteige mit Fahrstühlen zu erreichen sind, aber eben auch, dass Ärzte wissen, wie sie keinem Kind übergriffig begegnen (und ausreichend Zeit dafür haben), oder dass Eltern beispielsweise große Veranstaltungen meiden, weil sie ihrem Kind übermäßig viel Stress machen. Da braucht es nicht gleich die Helikopterkeule! Eltern ermöglichen ihrem Kind so eine gute Individuation, und wenn sie in Empathie, Selbstfürsorge und Bewusstmachen der Bedürfnisse aller leben, wird diese auch sozial vertrräglich sein (Keine „Tyrannen“!).

Bedürfnisse sichtbar machen

Es ist Teil meiner Arbeit, die „special needs“ sichtbar zu machen sowie zu zeigen, dass sie ihre Berechtigung haben, auch wenn sie nicht sofort erkennbar sind. Mir geht es selbst so mit meiner Migräne: die sieht keiner wie ein gebrochenes Bein, aber sie ist da. Dennoch wird sie manchmal verlacht, nicht ernst genommen. „Stell Dich nicht so an!“ Ein furchtbarer Satz.

Kinder und Eltern mit besonderen Bedürfnissen stellen sich in der Regel nicht an, sondern sehen sich / einander sehr klar und stimmen sich darauf ein. Das ist eine Leistung, kein Gehabe!

„Special needs“ ist keine Bewertung, sondern eine neutrale Feststellung. Wie brünett, klein, langbeinig, an Büchern interessiert, reiselustig, tierlieb oder mutig.

Mein Rat ist daher immer: Findet genau heraus, was die „special needs“ aller Familienmitglieder sind (Macht sie sichtbar!) und wie ihr sie in Einklang miteinander bringen könnt. (Dabei muss sicher jeder mal zurückstecken, das gehört dazu.) Und dann habt einen starken Rücken, um zu sehen, wie weit sich das Umfeld verbiegen lässt, um den Bedürfnissen gerecht zu werden – nicht ihr oder das Kind. 

(Die handschriftlich notierten Zitate auf den Karten stammen aus dem Buch „Mein Familienkompass“ von Nora Imlau, das am 31.08.2020 im Ullstein Verlag erscheint.)