Wie lange darf es dauern, bis aus Wurzeln Flügel werden?
Was ist das für eine Frage: Wie lange darf es dauern, bis aus Wurzeln Flügel werden? Wie lange dürfen unsere Kinder unsere Begleitung suchen / brauchen, bis sie selbständig und sicher in die Welt marschieren? Wir Eltern würden uns das von alleine vermutlich viel, viel seltener fragen, wenn unser Umfeld uns diese Fragestellung nicht immer wieder vor die Nase halten würde.
Wie lange schläft er noch bei Euch im Bett? Wie lange begleitest Du sie noch auf Kindergeburtstage? Wie lange wird er noch brauchen, bis er seine Wut in den Griff bekommt und nicht mehr zubeißt und Du immer dazwischen gehen musst? Wie lange wird sie noch benötigen, bis sie selbst ihre Freundin anrufen und um eine Verabredung zum Spielen bitten kann? Wie lange musst Du noch daneben sitzen, bis er seine Hausaufgaben endlich alleine schafft? Wie lange willst Du noch seine Probleme für ihn mit dem Fußballtrainer klären?
Manchmal geht es ganz plötzlich mit den Flügeln… Das kann wunderschön und schrecklich sein. Davon möchte ich erzählen. Und Mut machen, die Fragen und den kritischen Blick der anderen zu ignorieren. Denn es dauert so lange, wie es eben dauert. Ihr habt das Potential Eures Kindes im Blick und seine Bedürfnisse. Beides Hand in Hand gesehen zeigt Euch, wie lange es das Wurzelgießen und -düngen braucht.
Vielleicht habt Ihr auch ein Kind, das für manche Dinge etwas länger braucht als andere, als „der Durchschnitt“, als die Kinder in Eurem Bekanntenkreis, in der Verwandtschaft, als die Kinder der Menschen, die in Eurem Umfeld gerne vergleichen. Und vielleicht seid Ihr nicht so selbstsicher, nicht in jedem Moment, und Euch macht es unruhig, dass es so ist. Ihr fragt Euch, ob alles gut werden wird, ob der Weg zu einem guten Weg wird.
Ich glaube daran, wenn Ihr nah an Eurem Kind seid, wenn Ihr bewusst mit ihm lebt, wenn Ihr ihm Zeit gebt, seht was es kann, es nicht klein haltet, und auch nicht überfordert.
Wir hatten so ein Kind. Das nicht in der Spielgruppe mitsingen mochte, als alle anderen es mochten, sondern verschüchtert an der Wand saß. Das nicht in den Kindergarten mochte, als alle anderen sich eingewöhnen ließen, weil es noch nicht bereit war für eine andere Bezugsperson. Das nicht alleine bei Kindergeburtstagen blieb und wenn doch, dann aber nicht an den Spielen teilnahm, sondern nur zuschaute.
Wir hatten so ein Kind, das weinend am Schwimmbeckenrand stand, während alle reinsprangen und sich nass spritzten. Das andere trat, um ihnen zu zeigen, dass es Kontakt möchte, weil es zu scheu war, um Worte zu finden. Das den Kopf nicht hob, wenn es angesprochen wurde. Das Angst hatte vor Hunden und vor Kletterpartien. Das nicht Radfahren mochte, als alle anderen es längst konnten.
Wir waren diejenigen, die angesprochen wurden, was denn da los sei? Ob wir ihm nicht mal ein bisschen mehr zumuten wollten? Ein bisschen Druck machen? Oh, und er war ja der erste…, also probierten wir herum, fielen auf die Nase – und lernten! Er brauchte noch mehr Wurzeln, Gießen, Düngen. Hände, Hilfe, Nachsicht.
Und irgendwann, vollkommen unerwartet, war er aufgeblüht. So dass wir neben ihm saßen und uns überrascht fragten: „Wer ist das Kind, und was tut es da?“ WOW!
Er war soweit!
…und heute… heute stand ich am Fenster, mit dem Telefon in der Hand, aufgeregt, den Tränen nahe, den Autoschlüssel neben mir, 2 1/2 Stunden lang. Er war verschwunden! Nach der Schule nicht heimgekehrt.
Es hat etwas über eine halbe Stunde gedauert, bis mir langsam dämmerte, wo er vermutlich sein könnte: direkt nach der Schule in die Stadt gefahren, nur sein Hobby vor Augen, Besorgungen machen. Fahrkarte fehlte, Geld fehlte. Ans Handy hatte er nicht gedacht, an Mittagessen auch nicht. Ja, wir hatten darüber gesprochen, dass er heute in die Stadt wollte – aber doch nicht gleich nach Unterrichtsschluss ohne Mahlzeit im Magen, ohne Telefon in der Tasche, falls er sich nochmal mit der U-Bahn verfahren sollte, wie es schon einmal passiert war.
Ich schwankte zwischen Erleichterung („Es muss so sein. Er hat einfach nicht weiter nachgedacht. Er hat Flügel, ist selbstsicher losmarschiert.“) und weiterhin Panikmomenten („Was ist, wenn es doch nicht so ist? Wenn er in die Stadt will, sprechen wir das doch immer ab! Er kommt vorher zum Essen heim oder bestellt Mittagessen mit mir über die Schul-Homepage. Er hat sein Handy im Ranzen. Wir besprechen das unmissverständlich.“). Die Zeit wurde länger und länger. Ich konnte nicht mehr warten und besprach mich mit meinem Mann im Büro, dem es genauso ging wie mir: wird schon so sein… wird schon… oder?
Wir entschieden uns, die Freunde anzurufen und sein Stammgeschäft. Die Klassenkameraden wussten von nichts; wegen einer Klassenarbeit hatten alle zu unterschiedlichen Zeiten das Gebäude verlassen, und niemand hatte gesehen, wo er hingegangen war. In der Filiale ging niemand ans Telefon.
Normalerweise war er von diesen Ausflügen nach spätestens 1 1/2 Stunden zurück. Die Unruhe kroch mir durch den Magen und den Hals hoch. Verrückt! Mein großer, kluger Kerl. Aber meine Gefühle machten, was sie wollten.
Mein Mann schrieb mir: „Er wird gleich kommen. Bestimmt. Und: nicht schimpfen. Hauptsache, er ist wieder da!“ Ja, so fühlte ich mich auch. Das mittlere Kind ging zu einer AG und sagte beim Abschied: „Danach komme ich sofort nach Hause. Und wenn es etwas später wird: mach Dir keine Sorgen, Mama! Sie überzieht manchmal! Alles ist gut dann!“ Sie spürte, was los war.
2 1/2 Stunden. Ich organisierte jemanden, der sich um den Kleinsten und seinen Besucher kümmerte und wollte gerade mit dem Auto die möglichen Bus- und Bahnstrecken abfahren und das entfernte Geschäft abklappern, wo ich ihn vermutet hatte, da rief die Mittlere vorne vom Fahrradschuppen: „ER IST DA!“
Er war da.
Endlich. Was hab ich ihn umarmt! Er war so fröhlich. Hatte keine Ahnung, was wir eigentlich von ihm wollten!
Aus den gut gegossenen und gedüngten Wurzeln hatten sich kräftige Flügel bilden können, kräftiger als wir gedacht hatten. Weil wir ihm alle Zeit der Welt gelassen hatten.
Wir klärten alle Missverständnisse und besprachen einen guten Weg für solche Unternehmungen für die Zukunft.
Und ich konnte nicht aufhören, ihn anzusehen: breite Flügel auf dem Rücken!
Alle Bilder im Beitrag: N. Hummel.
IH
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