Ich bin nicht Deine Kurve!
„Ich gehe heute ohne das Schwimmshirt ins Wasser!“ – dieser Satz bedeutete unglaublich viel für die Mutter des Kindes, von dem ich berichten möchte. Wie häufig klagen wir den Druck an, den die Medien uns Erwachsenen machen hinsichtlich des perfekten Körpers? Wie oft machen wir uns Sorgen um unsere Teenies, die das schon dazu bewegt, sich falsch zu ernähren, fürchterliche Selbstbilder zu entwickeln oder gefährliche Prioritäten in ihrem Leben zu setzen. Aber auch unsere kleineren Kinder kann der Themenbereich Körper / Maße / Ernährung / Perfektionsgedanken bereits betreffen – sogar wenn man selbst ganz weit weg davon ist. Unerwartet steckt man mitten drin, viel zu früh.
In diesem Fall war das Kind, von dem ich berichte, im Grundschulalter und suchte im Rahmen der Vorsorgeuntersuchung U 11 gemeinsam mit der Mutter den Kinderarzt auf. Der Arzt führte das Gespräch fast ausschließlich mit dem Jungen, so wie es üblich ist, um gesicherte Informationen zu bekommen und nicht von den Eltern „schön geredete“. Er hörte also, dass das Kind sich viel bewegte mit seinem Roller oder auf dem Trampolin, dass es im Sportverein war und 2 bis 3 mal pro Woche trainierte; er hörte auch, dass es sich gut und vollwertig ernährte, keine süßen Getränke zum Alltag gehörten, der Umgang mit Süßigkeiten bewusst erfolgte usw. Doch dann wurden die Maße genommen: Größe, Gewicht, Alter – und alles in die BMI-Tabelle im Rechner gepresst.
Das Kind hatte eine Größe und ein Gewicht, die okay gewesen wären für einen 12-jährigen Jungen, er war jedoch erst 10. Das ergab einen BMI von etwa 20. Mit 12 Jahren fällt das unter normalgewichtig, mit 10 Jahren leider nicht. Es zählte nur die Tabelle, nicht was das Kind berichtet hatte, wie es sich zeigte oder bewegte. Der Arzt wartete auch nicht, bis das Kind zur Urinabgabe den Raum verlassen hatte, um das brisante Thema mit der Mutter anzusprechen – nein: zum Kind gewandt sagte er, es müsse aufpassen, was es esse, denn es sei zu dick!
Was sich in diesem Moment und danach in dem Kind abspielte, das sich bis dahin nie groß Gedanken über seinen Körper gemacht hatte, kann man nur erahnen. Es verließ das Untersuchngszimmer für die Urinabgabe, und die Mutter beschwerte sich deutlich beim Arzt! In den folgenden Jahren (!) wurden zu Hause immer mal wieder unauffällig Gespräche eingebaut, die um das Thema kreisten, Selbst- und Körperbewusstsein wurden gestärkt – aber im Schwimmbad und am Strand, beim Schwimmunterricht in der Schule oder im Verein musste fortan das Schwimmshirt anbleiben. Das war der Schutzwall, den der Junge brauchte, um sich sicher zu fühlen; das hatte der Arzt kaputt gemacht. Die kindliche Unbefangenheit war dahin. Mit 10 Jahren.
Wehrt Euch gegen solche Einordnungen in Tabellen und Kurven, gegen Bewertungen nach bloßen Zahlen! Seid da für Eure Kinder und stellt Euch klar positioniert dazwischen, wenn jemand mit derartigen Sätzen, Gesten, Bewertungen am Selbstwertgefühl kratzt. Schaut hin, wenn Ihr gesundheitliche Bedenken habt – ja natürlich! Aber lasst Euch nicht sofort verunsichern – und vor allem nicht Eure Kinder!
Mehr als 3 Jahre später saß der Junge in einem Erlebnisbad neben seiner Mutter auf einem Liegestuhl. Sie beobachteten das große Becken. Es hatte sich viel getan in seinem Leben; er hatte Mobbing miterlebt und gesehen, wie stark er sein kann, er hatte tolle Sportabzeichen holen können – er war „gewachsen“, in vielerlei Hinsicht. Plötzlich zog er sich das Schwimmshirt aus und gab es seiner Mama in die Hand mit den Worten: „Das brauche ich jetzt nicht mehr!“ Er stand auf, die Mutter war irritiert. „Ich gehe heute ohne das Schwimmshirt ins Wasser!“ Weg war er. Endlich! Was für ein toller Kerl.
IH
2 Gedanken zu „Ich bin nicht Deine Kurve!“