05 Sep

Ich habe nicht aufgepasst!

„Nei‘! Lass! Nei‘!“ Unsere Tochter schimpfte im Nachbarzimmer mit ihrem großen Bruder. Wir sahen die beiden nicht, nahmen aber an, dass er sie – wie üblich – zankte, und riefen aus der Küche, er solle sie in Ruhe lassen, doch er entgegnete verzweifelt, das tue er nicht! Genervt stampften wir zu den Kindern – und entdeckten, was unser Sohn Großartiges tat: er hielt seine Schwester fest! Sie war nämlich auf die Fensterbank geklettert. Am Fenster, das wir offen gelassen hatten, sperrangelweit. In ihrem Kinderzimmer.

Sie war wieder hineingeschlüpft, das hatten wir gesehen; aber wir hatten nicht an das Fenster gedacht. Wir hatten einen schlimmen Fehler gemacht! Das hätte furchtbar ausgehen können.

Alle Familien, mit denen ich arbeite, alle Bekannten und Freunde, die ich schon kannte, als ihre Kinder im Baby- oder Kleinkindalter waren, haben mir irgendwann davon erzählt: Ihnen ist „etwas passiert“, ein Fehler unterlaufen, sie haben „nicht richtig aufgepasst“, das Kind hat sich verletzt, ist aus dem Bett gefallen, hat sich beim Krabbeln üben ganz schlimm den Kopf gestoßen, bei den ersten Schritten am Wohnzimmertisch entlang plötzlich den Kopf an der Tischplatte angeschlagen, oder – ganz furchtbar – ein Tasse vom Tisch gezogen und verbrüht. Oder oder oder.

Sie haben sich verschätzt, waren unaufmerksam, haben etwas nicht richtig abgesichert. Eine Sekunde nur, einen minimalen Moment lang, eine müde Minute. Vielleicht waren sie abgelenkt – vom anderen Kind, vom Essen, von der Toilette, vom Schlaf, vom verpöhnten Smartphone.  Vielleicht haben sie die Situation oder ihr Kind falsch eingeschätzt, weil es einen Schub gemacht hat und unerwartet mehr konnte als gestern, als eben noch. Vielleicht kamen auch zwei, drei unlückliche Zufälle zusammen.

Und dann sind sie da: die Vorwürfe im eigenen Kopf, die Vorwürfe des Partners, der Schwiegermutter, der Nachbarin. Eventuell böse Blicke von Nachbarn, anderen Eltern, die etwas gesehen oder gehört haben. Auf dem Spielplatz, im Kindergarten. Denen man sich anvertraut. Weil man sonst platzt. Weil man unsicher ist.

Vorwürfe und Fragen eines Arztes, zu dem man gefahren ist – sicherheitshalber. Oh, das fühlt sich ganz schlimm an! Man ist doch niemand von „diesen“ Eltern, die willentlich ihrem Kind etwas antun. Wie kann das jemand denken!!

 

Der Vorwurf in mir drin

Kennt Ihr diese Situation, diese Gefühle? Diese Unsicherheit, dieses Gedankenkarussell und diese Vorwürfe? Ich möchte Euch für diese Momente etwas mitgeben:

Sie passieren uns allen. Es wäre schöner, wenn sie nicht passiere würden, ja. Unsere Kinder sind winzig und zart und auf unseren Schutz und unsere Hilfe angewiesen, aber wir sind nicht perfekt und können sie weder als Teenies, noch als Schulkinder und auch nicht als Kleinkinder und Babys vor allem Unglück dieser Welt beschützen. Wir können und sollten es versuchen – unbedingt! Wir sollten versuchen vorauszuahnen, was passieren kann bei scharfen Kanten, hohen Betten, langen Treppen, heißen Herdplatten, offenen Fenstern, hohen Stühlen, scharfen Messern, kleinen Legosteinchen, Steckdosen, frischem Kaffee,  spitzen Scheren, giftigen Putzmitteln, schweren Türen, Metallschaufeln, Geschwistern, die ihre Kräfte noch nicht einschätzen können, Heizkörpern, Zigarettenstummeln, Stromkabeln, heißen Ofentüren… – aber es gibt so viele Gefahren, die wir nicht immer vorausahnen können, dass irgendwann ein kleiner oder großer erster Unfall unvermeidbar sein wird.

Seid dann einfach da für Euer Kind. Tröstet, heilt, steht zu dem, was passiert ist. Schämt Euch nicht und geht auf jeden Fall sofort zum Arzt, wenn es nötig ist. Ärzte erkennen, ob etwas mutwillig geschehen ist oder ein Unfall war! Die genauen Nachfragen sind wichtig und richtig; sie werden jedem Elternteil gestellt, und darüber können wir froh sein, denn so werden hoffentlich möglichst viele Fälle aufgedeckt, bei denen es sich nicht um Unfälle handelte!

Ich weiß noch, wie schrecklich es sich anfühlte, als der Arzt nur noch mit unserer Tochter (und nicht mit mir) sprach, die wir mit einer Platzwunde an der Stirn in die Kinderklinik gebracht hatten. Aber als er erkannt hatte, dass sie wirklich beim Abendessen und zeitgleichem Herumturnen vom Hochstuhl gefallen und unglücklich gestürzt war – nämlich auf den dahinterliegenden Heizkörper – waren wir wieder ein ganz normaler Fall, und ich konnte seine Strategie als positiv annehmen; es hätte ja auch anders gewesen sein können, und dann hätte er unter Umständen einem Kind sehr helfen können!

Und: macht Euch nicht so viele Vorwürfe. Lernt aus dem Geschehenen, aber gesteht Euch zu, dass jedem Fehler passieren dürfen, auch wenn der Leidtragende Euer Kind war. Es passiert uns allen!

IH

Ein Gedanke zu „Ich habe nicht aufgepasst!

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