„Toleranz kommt ja von Tellerrand!“
Eine benachbarte Familie hat zwei kleine Kinder, die man fast für Zwillinge halten könnte, so nah sind sie vom Alter her beinander. Die beiden sind sehr lebhaft, viel im Garten, so dass man viel von ihnen mitbekommt. Sie lachen, fragen, toben, wüten und reden, reden, reden. Pausenlos. Die Eltern sind unheimlich gelassen und verständnisvoll. Fast immer. Manchmal nicht.
Mein Mann und ich hören den beiden Kleinen unheimlich gerne zu, amüsieren uns über ihre Monologe und ihr Tun und finden sie einfach wunderbar. Wir haben auch leicht reden: wir haben sie nicht 24/7 in unserem Leben. Ihre Eltern können sie manchmal nicht so sehen, sind gestresst und wünschen sich wohl mal eine Pause von dem Redeschwall der Kleinen, die die Welt entdecken und alles kommentieren.
Ich habe schon gehört, wie jemand an ihrem Garten vorbeiging und abwertend feststellte, wie entnervt die Reaktion der Eltern gerade sei. – Ich glaube, das kennen wir alle: ein Ausschnitt, Vorgeschichte unbekannt, ein Elternteil reagiert harsch, wir echauffieren uns.
Dabei kann das fremde Elternteil auch „zu liebevoll“, „zu intensiv“, zu irgendwas reagieren – irgendwer kommt zufällig vorbei, erlebt die Episode und regt sich auf. Wie aggressiv! Wie fies! Wie helikoptermäßig! Wie zuckerwattig!
BÄÄÄM! So geht das aber nicht!!
Vermutlich ist uns das allen schon passiert. Noch als Nicht-Eltern oder als frischgebackene Eltern, die ihren Weg suchen und andere begucken und bewerten. Mir ist das früher ganz oft passiert: ich hatte meinen Weg, so ungefähr, alles links und rechts davon habe ich kritisch beäugt, belächelt, zerredet.
Dann ist ein solcher Kommentar auf eine Freundin getroffen. Es ging nicht über sie, aber das Thema hat sie angesprochen. Und sie hat sich ein Herz gefasst und klar Stellung bezogen. Höflich, aber bestimmt. Und mich dazu gebracht, mir die Situation doch noch einmal genau anzuschauen und sie neu zu bewerten. Es ging ums „Helikoptern“ – ist das wirklich schlimm, ist das überhaupt so in dieser Situation, kann ich die Vorgeschichte einschätzen, um so eine Bewertung loszulassen?
Nein! Das konnte ich nicht. Meine Freundin half mir, den Moment von einer anderen Seite zu betrachten, über meinen Tellerrand zu schauen und mich mit meiner Abwertung kritisch auseinanderzusetzen. Für diese Hilfe bin ich ihr sehr dankbar. Seither erlebe ich immer noch fast täglich Momente, nicht nur mit anderen Eltern, in denen mein erster Gedanke so etwas ist wie „Oh mein Gott! Wie bescheuert ist das denn, was der da macht!“ Aber meistens shaffe ich es, dass der zweite Gedanke die Frage danach ist, ob derjenige nicht einen guten Grund haben mag, so zu handeln. Ob man das eigentlich wirklich kritisch sehen muss. Ob ich nicht vielleicht sogar noch etwas daraus lernen kann. Und ob mich das alles überhaupt etwas angeht.
Dein Weg – Mein Weg
Viele Wege führen nach Rom, und so lange niemandem körperliche oder seelische Gewalt angetan wird, kann man eigentlich wirklich richtig viele Wege akzeptieren und einfach hinnehmen. Weitergehen, weiterscrollen. Und wenn man sich genauer dafür interessiert, kann man wertschätzend (!) nachfragen. Ich glaube, wenn wir alle das – im Alltag, in Eltern-Kind-Kursen, in Kitas und Schulen, im Job und besonders auch in Online-Diskussionen – berücksichtigen würden, gäbe es eventuell einige vordergründige lustige Tweets und bissige Kommentare weniger, aber vor allem gäbe es mehr Gemeinschaftsgefühl und Toleranz.
Keiner geht daran zugrunde, weil mit 1 1/2 „die falsche“ / keine / zu viel / zu früh Zahncreme verwendet wurde oder weil im Streit um eine Schaufel auf dem Spielplatz zu stark / zu wenig / zu laut / gar nicht reguliert wurde. Glaube ich.
IH