Die unsichtbare Nabelschnur
„Fremdeln“ kennen wir alle, mal mehr, mal weniger stark ausgeprägt bei unseren Kindern, normalerweise eine Zeit lang im ersten Lebensjahr. Das haben wir akzeptiert und wissen meist, damit gut umzugehen: das Fremdeln wird nicht schneller verschwinden, wenn wir unsere Babys in dieser Phase dazu zwingen, zu Menschen auf den Arm zu gehen, zu denen sie nicht möchten, oder bei Leuten zu bleiben, die für sie keine engen Bezugspersonen sind. Am meisten hilft es unseren Kindern, wenn wir auf ihre Signale reagieren und ihnen Sicherheit geben.
Aber auch größere Kinder können ähnliche Phasen haben!
Kindergarten-, Grundschul- oder auch Teeniekinder können manchmal Zeiten erleben, in denen sie sich plötzlich unsicher und fremd fühlen in bestimmten Situationen, mit bestimmten Menschen. Da sind Familie, das Zuhause, das Gewohnte auf einmal wieder ganz wichtig, der sichere Hafen. Es fühlt sich an, als sei die Nabelschnur wieder da und zöge sich zusammen: kurz, ganz kurz. Nähe wird gebraucht, um sich sicher zu fühlen.
Und wir Eltern?
Uns verunsichert das dann manchmal. Was ist da los? Es kann etwas wirklich Heftiges sein, ein Einschnitt im Leben unserer Kinder, der sie verunsichert, verängstigt, auf den wir schauen müssen und an dem wir ggf. etwas tun müssen. Es kann aber auch einfach ein Moment sein, eine Kleinigkeit, ein Gefühl, das nicht klar zu benennen ist. Grübeln nach Ursachen hat dann keinen Sinn.
Einfach nur Schutzsuche, Halt, Wurzelwunsch – damit man bald wieder fliegen kann.
Manchmal können wir damit sofort gut umgehen, reagieren gelassen, nehmen die Situation an. Aber es gibt auch Zeiten, da verunsichert uns dies wiederum – oder stört uns sogar. Es hat doch alles schon so super funktioniert! Flügge Kinder, wiedergefundener Freiraum für uns Große – och nee, das passt jetzt mal so gar nicht in unser Leben! Hin und wieder erlebe ich diese Momente in Gesprächen, Beratungen, in unserem Leben. Und ich denke, hier gilt es, zu stoppen, hinzuschauen und sich darauf einzulassen, was passiert, ggf. Kompromisse zu finden.
Eigentlich ist es jedoch wie beim Fremdeln im Babyalter auch: je mehr man darauf eingeht und dem Bedürfnis nachkommt, desto schneller stellt sich die Sicherheit wieder ein – desto schneller wird alles wahrscheinlich vorüber sein.
Was tun?
Wenn Dein Kind also beispielsweise nachmittags wieder einen Erwachsenen braucht, um sich auf die Hausaufgaben konzentrieren zu können, nimm Dir die Zeit und setz Dich dazu; sie ist nicht vertan, Du tust dann ganz viel.
Wenn es abends plötzlich wieder die Mama braucht, um besser in den Schlaf zu kommen, leg Dich dazu oder schaffe einen Platz dort, wo auch Du Dich abends aufhältst – zum Beispiel ein Floorbed im Wohnzimmer mit Himmel, um das Kind ein bisschen abzuschotten, aber es bei Dir sein lassen zu können. Du kannst äußern, dass auch Du abends Zeit für Dich brauchst; verbindet Eure Bedürfnisse, findet Lösungen, die für alle passen.
Wenn Dein Kind von jetzt auf gleich wieder Wege mit Dir machen möchte, die es längst alleine konnte, versuche doch, es zu begleiten; wenn es zeitlich schwierig ist, geht es vielleicht einmal mit, einmal ohne Dich.
Will Dein Kind plötzlich wieder Hilfe beim Essen, Waschen, Zähneputzen, Anziehen, guck wo Du helfen kannst. Du wirst ihm nicht sofort seine Selbständigkeit nehmen, auch wenn das Umfeld dies unken mag. Es tyrannisiert Dich auch nicht – es bittet Dich, GENAU DICH, um Hilfe, zeigt/sagt, was es braucht. Das ist doch großartig! Nehmt die Situation an und findet Euren gemeinsamen Weg durch diese Phase. Das Kind wird sich ernst genommen fühlen und seinerseits Kompromissbereitschaft beim Umsetzen zeigen.
Schaut hin und werdet kreativ.
Gebt Sicherheit und Wurzeln, auch wenn die Kinder äußerlich schon so wirken, als wäre das nicht mehr nötig.
Auf einmal wird die Nabelschnur dann doch wieder gaaaaaaanz lang werden.
IH
Ein Gedanke zu „Die unsichtbare Nabelschnur“