08 Aug

Selbständigwerden braucht ES SELBST TUN. Immer wieder.

HERZ▪IN▪FARKT

Zweimal habe ich heute gedacht, mein Herz bleibt stehen. Weil ich mit den Kindern auf einer Radtour war und der Jüngste vollkommen unerwartete Entscheidungen traf in deren Folge ich ihn jedes Mal quasi vom Kühlergrill eines Autos wegbrüllen musste. Puh! Was macht man da?

Aufstampfen und schimpfen? Entscheiden, dass nicht mehr geradelt wird, sondern nächstes Mal alle ins Auto steigen oder der Bus zu benutzen ist? Eine kräftige Strafe überlegen – schließlich hatte ich doch gesagt: „Anhalten, Fuß auf den Boden, ich sage wenn frei ist!“?

Das wäre alles irgendwie einfach. Es wäre vor allem weniger nervenaufreibend. Aber mein Ziel ist ja, dass auch der Jüngste sicher alleine radeln kann. Also kann es nur einen Weg geben: darüber sprechen und weiterüben.

Hilfe zur Selbsthilfe

Und das ist ja bei ganz vielen Dingen so. Ich kann die Umstände ändern, aber wenn ich will,  dass mein Kind es lernt, muss ich ihm die Übungssituation bieten, die „Entwicklungsmöglichkeiten arrangieren“ (Oerter/Montada). Auch wenn es mich anstrengt, ich wenn ich das gefühlt seit einer Eeeeewigkeit mache.

Das Radfahren mit Kindern mache ich jetzt seit ca. 12 Jahren. In verschiedenen Konstellationen. Mit unterschiedlichen Fahrzeugen. Mit Spaß. Mit Stress. Mit viel Stimmbandeinsatz.

TRILLERPFEIFE?!?

Zuerst fuhr der Große Laufrad, und die Kleine saß bei mir im Fahrradsitz. Dann fuhr der Älteste Rad, die Kleine war die Mittlere geworden und saß auf dem Laufrad, und der Dritte saß auf meinem Rad im Sitz. Irgendwann hatten beide Großen ein Fahrrad, der Kleinste das Laufrad, und ich gurkte auf meinem Drahtesel hinterher.

Natürlich vermieden wir große Straßen, suchten uns Parks, Feldwege, verkehrsberuhigte Strecken. Wir blieben auf dem Gehweg und trafen klare Absprachen wie

  • Warten an jeder Kreuzung oder Ampel, um die weitere Richtung besprechen zu können
  • Bremse in die Hand nehmen, wenn es bergab ging
  • immer mal Anhalten und Blickkontakt suchen, ggf. warten

Dennoch hatte ich immer eine Trillerpfeife dabei. Für die wurde ich oft bestaunt, verlacht oder auch angeraunzt, aber die Kinder empfanden sie gar nicht als negativ. Sie sagte ihnen nur „Bitte mal warten“, wenn meine Stimme nicht mehr wollte.

Übung macht den Meister

Das klappte super.

Und trotzdem gab es jedes Mal Herzklabastermomente, wenn ein Auto aus einer Einfahrt schoss, ein Hund aus einem Gartentor gejagt kam oder ein Kind beim In-die-Welt-Gucken von der geraden Spur abkam.

Wir machten dennoch weiter. Die Kinder lernten erste Kleinigkeiten wie dass das „Spiegelei“ die Vorfahrtstraße kennzeichnet oder was an einem Zebrastreifen zu tun ist. Alle drei saßen irgendwann auf großen Rädern, hatten in der Schule noch Theorie und Praxis gelernt, die Fahrradprüfung bestanden und waren viele Kilometer mit uns durch den Wald und auch den Stadtverkehr geradelt.

Inzwischen machen die beiden Ältesten viele Wege alleine,  fahren einkaufen, zum Schwimmbad, besuchen Freunde, probieren Wege aus, verfahren sich auch mal. Gedanken mache ich mir keine mehr. Der Jüngste ist nun 10 und soll auch gerne bald an diesen Punkt kommen. Aber es dauert wohl noch ein bisschen. Jeder in seinem Tempo.

Viele Lernfelder muss man nach und nach loslassen

Der Älteste kann schon Bus- und Zugfahrpläne lesen und hat einen großen Radius. Er kann sein Lernen für die Schule alleine planen, Aufgaben im Haushalt übernehmen ohne dass wir ihn dazu anhalten müssen, Termine ohne Rücksprache vereinbaren und vieles mehr. Weil er es ausprobieren durfte. Mit Anleitung, dann alleine. Mit Raum für Fehler und Fehlentscheidungen, ohne Strafe oder übles Meckern und Niedermachen befürchten zu müssen. Alles mit uns als Back Up, falls doch nochmal mehr Hilfe nötig war (schulisch war das zum Beispiel phasenweise so).

Die anderen beiden sind noch nicht so weit. Sie müssen üben, wir geben ihnen Anleitung, Vertrauen und Raum zum Probieren. Und wenn es um so etwas lebenswichtiges geht wie richtiges, vorsichtiges Verhalten im Straßenverkehr sind wir eben etwas enger dran, müssen noch Zeit und Nerven investieren. Wie früher ins Lernen von Umgang mit Wut oder Regelung von Geschwisterstreitigkeiten.

Freiraum gibt es dafür woanders (für sie und für uns!) – selbst tun können, alleine tun dürfen, wachsen.

Und wir Eltern stehen dabei mit Stolz und einem Lächeln – und Schweißperlen und vielen grauen Haaren!