10 Mai

Kinder brauchen Verabredungen

In meinen Beratungen äußern viele Familien sich zu ihrem Stress rund um immer wiederkehrende Situationen, in denen es zu Gezanke, Gebrülle und Unzufriedenheiten kommt. Auf allen Seiten! Wenn wir dann gemeinsam genauer hinschauen, zeigt sich oft, dass jeder der Beteiligten ein Bild im Kopf hat, wie es laufen sollte, aber

  • diese Vorstellung passt gar nicht zum wirklich Machbaren – weil der Alltag nun mal andere Erfordernisse mit sich bringt, die Kinder zu klein, die Eltern zu rasch wütend sind oder oder oder
  • die eigene Idee dem Gegenüber gar nicht klar ist.

Es mangelt also an Kommunikation und auch Perspektivenwechsel. Ich schaue dann mit den Eltern hin, ob sie schon sicher wissen, was ihr Kind möchte oder wie sie das herausfinden können; und wir schauen hin, was die Eltern sich vorstellen, ob das im Alter ihrer Kinder überhaupt möglich ist und auch ob sie das gut vermitteln können. Und wir blicken auch darauf, ob sich die Eltern vielleicht zu wenig zeigen oder aber im Gegenteil zu autoritär sind:

  • Wer seine Bedürfnisse nicht klar zeigt, kann vom Kind nicht gesehen werden.
  • Wer allein seine Bedürfnisse in den Vordergrund stellt, kann nicht viel Kooperation erwarten.

Und dann suchen wir gemeinsam Wege, wie die stressigen Situationen durch Vereinbarungen vermindert werden können. Diese Vereinbarungen (Katharina Saalfrank erklärt diesen Begriff in Abgrenzung zum Wort „Regeln“ in „Was unsere Kinder brauchen“, GU) wachsen als Kompromisse, die alle Bedürnisse verbinden wollen, und berücksichtigen, was den Kindern helfen würde: ein Plan, eine Uhr, eine Geste, andere Helferlein – was auch immer.

Andere würden eben sagen, wir suchen nach Regeln, die zur Familie passen, und überlegen, wie sich diese gut in den Familienalltag integrieren lassen. Denn Regeln sind nur hilfreich, wenn alle sie verstehen und annehmen können.

Regeln finden – aber wie?

Mit Beratungsfamilien finde ich oft typische Umsetzungen, die vielen helfen (Stichwort: Visualisierung), aber häufig auch ganz individuelle Wege, weil die Eltern ihr eigenes Wesen und das ihrer Kinder miteinbringen und richtig toll kreativ werden.

Ähnliches ist möglich durch die Impulse aus dem Buch „Starke Kinder brauchen Regeln“ von Ulla Nedebock (humboldt Verlag), wenn Ihr selbst die Kraft habt, gut hinzuschauen und kreativ zu werden. Das Werk lief mir immer häufiger über den Weg, und ich habe ihm eine Chance gegeben: zum Glück!

Wer anhand des Titels klare Programme erwartet, die 1:1 auf alle passen und nur abgehakt werden müssen, der wird enttäuscht. Auch diejenigen, die sich erhoffen, das Buch verhilft ihnen zu einem absolut konfliktfreien Familienleben, hat falsch gewettet. Das stellt Ulla gleich zu Beginn klar: Sie kann den Lesern ein Wie und ein Was vorstellen, aber ausfüllen müssen die Eltern dies selbst, anhand ihrer eigenen Möglichkeiten und mit Blick auf ihr Kind. Dann wird der Alltag konfliktärmer. – Und das sind großartige Ziele, genau wie wir sie auch in der Beratung angehen würden.

Ich mag sehr, wie die Autorin von Anfang an Wert darauf legt, dass

  • ein konfliktärmerer Alltag vor allem Elternarbeit ist und wir Großen uns verändern müssen,
  • der Weg anstrengend wird – aber auch dass sich jede Bemühung und Regelfindung mittelfristig auszahlt,
  • Familienleben auf jeden Fall körperlich und seelisch gewaltfrei geschehen muss,
  • wir Eltern diffuse Unzufriedenheit mit dem Alltag erst einmal sortieren und klären müssen, bevor wir irgendwo anfangen, etwas zu ändern,
  • Regeln im Kompromiss gefunden werden sollten,
  • und dass wir Eltern Begleiter und Leitwölfe sein sollten – ein Punkt, der in der bindungs- und beziehungsorientierten Beratung immer wieder relevant ist, weil diese Gratwanderung engagierten Eltern oft schwerfällt: Wie viel Richtungsvorgabe und Grenzenaufzeigen verträgt eine gute Bindung? Wie viel davon braucht  ein Kind? Kannst Du als begleitender Erwachsener „gütig und weiser“ (vgl. „Der Kreis der Sicherheit: Die klinische Nutzung der Bindungstherapie“, Powell, Cooper, et. al., G.P. Probst) sein ?

Vergiss Dich selbst nicht!

Außerdem schätze ich es, dass Ulla die Selbstfürsorge nicht vergisst – ein Wort, das wie „Achtsamkeit“ auch manchmal schon nerven kann, wenn man über Erziehung liest, aber das einfach so wichtig ist. In den Beratungen treffe ich oft auf Eltern, die wütende Kindern begleiten müssen, aber selbst ständig in Wut fallen, so dass sich alles aufschaukelt. Das Buch erinnert daran, auch dieses Feld nicht zu übersehen: Wer unglücklich im Hamsterrad steckt und ständig über die eigenen Grenzen hinweggeht, kann schwer mit Gelassenheit auf sein Kind schauen. Ulla gibt gute Impulse, mit deren Hilfe der Leser selbst Veränderungen starten kann; im Coaching würden wir hier tiefer hinschauen, wenn jemand allein keine Ideen mehr entwickeln kann, um Entlastung zu finden, Leidenschaften zu reaktivieren und ähnliches.

Sieh Dein Kind!

Die zweite Säule beim Regelnfinden ist der Blick aufs Kind: Was kann es schon, was muss es noch lernen – und warum tut es das, was es tut? Das sind die Fragen, die wir Eltern uns stellen müssen vorm Regelnfinden, und manchmal fällt uns das schwer. Ullas Buch kann dabei helfen, und wenn man hier nicht weiterkommt, geht auch eine Beratung diesen Weg und schaut noch genauer hin: Welche Erfahrungen musste das Kind schon machen? Welche Herausforderungen muss es zurzeit bewältigen? Welche entwicklungspsychologischen Informationen sind von Belang, um ein Kind gut einzuschätzen? Welche Bedürfnisse stecken im Kind, die wir übersehen haben?

Die Autorin stellt hier viele Bereiche vor, erklärt auch Begrifflichkeiten wie „Resilienz“ sehr griffig und gibt Inspiration anhand von konkreten und kreativen Elternideen zu wirklich sehr typischen Alltagsbeispielen – vom großen Geschwisterkind, das dem Baby wehtut, über den stressigen Morgen, an dem man pünktlich aus dem Haus muss, bis hin zu verweigerter Hilfe im Haushalt.

Ich mag, dass sie dabei immer wieder auch darauf achtet, wie wichtig eine positive Perspektive, eine wertschätzende, eindeutige Wortwahl ist (und wie man das hinbekommt!) und wie schnell Missverständnisse entstehen, die blöde Situationen zu einem Selbstläufer machen, wenn wir nicht innehalten! Hier erklärt sie auch sehr gut, was es mit der Angst vorm Inkonsequentsein auf sich hat und wie wir damit umgehen sollten bzw. wie wichtig es auch ist, Regeln immer wieder zu überprüfen – und auch unser eigenes Verhalten: wie oft sind wir unklar und lösen das Problem mit dem Kind eigentlich selbst erst aus!

Des Weiteren wird nicht vergessen, dass unsere Kinder nicht ausschließlich in der Familie aufwachsen: Ulla gibt viele Tipps dafür, wie wir Eltern den Kindergarten mit ins Boot holen können, um bestimmte Probleme zu lösen.

Kleine persönliche Kritik

Ich kann das Buch beziehungsorientiert lebenden Eltern wirklich sehr empfehlen, um eigenständig herauszufinden,

  • was wirklich Eure Knackpunkte sind,
  • wo Ihr hinwollt,
  • was Euch fehlt,
  • was Eure Kinder brauchen
  • und wie sich dies alles mit der sog. STAMM-Methode umsetzen lässt.

Beim ersten Lesen sind mir nur zwei Kleinigkeiten aufgefallen, die ich persönlich anders handhaben würde. An vielen Stellen stellt die Autorin nicht nur vor, wie eine gute Regel zu finden ist, sondern füllt sie auch mit Inhalten; das ist zumeist sehr ähnlich zu meinem Weg, allein beim Punkt, Essen auf jeden Fall probieren zu müssen, habe ich eine andere Meinung (wie Stammleser des Blogs und auch Twitterleser wissen). Und in der Liste für weiterführende Literatur würde ich ein Werk streichen, aber das ist wieder eine andere Geschichte und schmälert den hohen Wert dieses hilfreichen Buches nicht. Leseempfehlung!

#werbungohneauftrag

P.S. Unbedingt erwähnen möchte ich noch, dass Ulla Nedebock auch andere tolle Dinge macht; schaut mal rein bei Instagram – auch meinen Weg zum professionellen Schreiben hat sie sehr beeinflusst. :-* DANKE!