18 Sep

Norman Wolf: „Die Fische schlafen noch!“

“ ‚Normi‘, sagt Opa, als er mich sieht, und es fühlt sich wie eine Umarmung an. Ich denke an die Jungs in meiner Klasse, die alle darauf pochen, schon fast erwachsen zu sein, MTV statt Super RTL schauen, für die Mädchen aus der Parallelklasse schwärmen und zwischen den Stunden über das Rauchen und manchmal über Sex sprechen. Ich will gar nicht erwachsen sein. Erwachsene streiten sich ständig, sorgen sich um Geld und trinken Bier, wenn es ihnen schlecht geht. Ich bin mit Kindsein noch nicht fertig.“

Diese Zeilen mitten aus dem Buch „Die Fische schlafen noch“ von Norman Wolf (MVG) beinhalten schon ziemlich viel, was in diesem Werk steckt: gefühlvoll erinnert sich der Autor zurück an seine Kindheit, in der das idyllische Familienleben immer stärker zerbröselte und ihn innerlich bedrückte.

Als Bindungsträumer bestürzt und interessiert mich das Erzählte, weil die Geschichte darüber, wie Norman seinen Vater an den Alkoholismus verlor, so dass dieser ganz aus seinem Leben verschwand, und wie die Mutter um den Alltag mit ihren Söhnen kämpfte, und was das alles mit den Kindern machte, ziemlich heftig bewusst macht, wie fragil Familie ist, wie abhängig unsere Kinder davon sind, was wir Großen tun und können – und nicht können.

Unsere Kinder

Norman damals und viele andere Kinder heute nehmen sich zurück, schlucken eigene Ängste und Sorgen herunter, zeigen sich stark, um ihren Eltern keine zusätzlichen Sorgen zu machen. Auch wenn sie sich fürchten vor den Streitigkeiten, vor den Folgen, auch wenn sie selbst kämpfen mit Pubertät, fiesen Klassenkameraden, der eigenen Psyche, vielleicht ihrer Introvertiertheit und vielem mehr.

Wie auch in meiner Lebensgeschichte wäre es wünschenswert gewesen, dass ein Elternteil, das selbst schwierige Voraussetzungen mitbrachte, dies erkennt und daran mit professioneller Hilfe arbeitet – für sich selbst und für seine Kinder. Doch wie auch meinem Vater war dies Normans Vater nicht möglich; er fand die Kraft dafür nicht. Trotz wahnsinniger Liebe zu den eigenen Kindern.

Er verließ sein zu Hause und lebt seit über 10 Jahren auf der Straße.

Bindung

Als Bindungsträumer begeistert mich aber auch Normans Kraft, seine Resilienz, die ihm vor allem möglich war dank der Liebe seiner Mutter, dank der Erinnerungen an wunderschöne Zeiten mit seinem Vater und besonders dank seiner engen Bindung an den Großvater. Gute Bezugsperson kann jeder werden, der sich verlässlich zeigt, der sich kümmert, der ein Kind richtig „liest“ und sich entsprechend verhält. Hier war es der wunderbare Opa, der ganz viel daran mitgewirkt hat, dass der Autor gut durch all diese Stürme kommen konnte und als Erwachsener die Kraft hatte, seinen Vater zu suchen, (vor allem anonymen Internet-)Beinstellern auf dem Weg mutig entgegen zu treten und seine Geschichte aufzuschreiben.

Eine gute Bindung ist eine so wichtige Basis für ganz, ganz vieles im Leben. Sie kann dabei helfen, dass der eigene Weg trotz aller Widrigkeiten einen guten Verlauf nimmt, dass man trotz aller andersartigen Erfahrungen selbst Probleme irgendwann aktiver angeht als die Eltern es vielleicht getan haben.

Ich durfte Norman kennenlernen und denke, er ist einen guten Weg gegangen und geht ihn noch. Seinen Vater vermisst er noch immer in seinem Leben; er würde noch immer gerne mehr für ihn tun. Doch wenn der andere es nicht zulässt, hat man keine Handhabe (Normans Vater möchte Hilfe von außen zurück in ein „geordneteres“ Leben nicht annehmen, da ihm dies zu viele Kompromisse bedeuten würde). Die Erfahrung musste ich ja auch machen. Ich wünsche Norman, dass er eine gute Möglichkeit findet, mit dem Erlebten eine Art des „positiven Abschließens“ zu finden, denn wir Kinder können nicht auf ewig verantwortlich sein für die Güte der Beziehungen zu unseren Eltern, die sich und uns irgendwie Steine in den Weg legen. Und ich wünsche ihm viele Leser, die sich auf sein Buch einlassen; die Lektüre ist nicht leicht: wer empathisch ist, wird den Druck auf den Kinder- und auch später den Erwachsenenschultern des Verfassers sehr schmerzhaft mitfühlen und auch sicher die ein oder andere Träne verdrücken. Aber man geht auf eine Reise, für die man doch dankbar sein kann.