Was ist Gewalt? – Teil 2
(Fortsetzung zu Was ist Gewalt? – Teil 1)
Perspektivwechsel
Was ist Gewalt? – Ich kann es für mich und für alle mir erdenklichen Situationen auch nicht immer eindeutig beantworten. Aber mir geht es hier ja vor allem um das Sensibilisieren im Austausch miteinander und Begleiten anderer Eltern, damit man sich dreimal überlegt, ob man zu dieser Vokabel greifen sollte, oder sein Argumentationsziel – ein Anregen zum Nachdenken – nicht doch anders erreichen kann. Und: ob man nicht selbst vielleicht auch nochmal überdenken sollte, ob sein eigener Standpunkt allgemeingültig ist!
Darum möchte ich zum Perspektivwechsel anregen: Bleiben wir beim Abstill-Beispiel. Ich habe eine Mutter in meiner Beratung und begleite die Familie sehr eng; seit der Geburt ihres Kindes stillt sie, lebt bindungorientierte- und beziehungsorientierte Elternschaft, wie man es sich nur vorstellen kann, hat einen großartig unterstützenden Mann – aber auch ein Kind, das sich vom Temperament her schlecht selbst regulieren kann, das von der Hirnreife her noch weit weg ist vom Durchschlafen, und das nicht länger als maximal 1 1/2 Stunden am Stück schläft, tags wie nachts, und dieses Kind ist nun schon 13 Monate alt! Sie hat tiefe Täler hinter sich, sie hat Kraft, aber hatte auch schon keine, sie war vom Kopf her schon oft beim Abstillen, aber nicht vom Herzen. In ihr passiert ganz viel, die Eltern denken, reden, überlegen, versuchen… sie sind ganz großartig. Und stark. Und trotzdem ist ein Satz wie „Abstillen von der Mutter ausgehend ist Gewalt“ für sie absolut verunsichernd. Und übergriffig. Wenn man nicht mehr weiß, wie schlafen geht, wenn man unsicher ist, ob das eigene Kind manchmal vielleicht zu wenig gesunden Schlaf bekommt, wenn man selbst innerlich kämpft mit Entscheidungsfindungen, vielleicht nahezu depressiven Gedanken in dieser ach so schön zu seienden Babyzeit – dann ist so ein Urteil fatal! Schmerzhaft! Kann noch mehr verunsichern! Vielleicht war jemand gerade auf dem Weg zu einem guten Kompromiss und vergisst sich dann doch wieder. Das kann dramatische Folgen haben. Solch eine erneute Verunsicherung auf einem endlich, eeeeeendlich beschrittenen Weg, der in Beziehung gegangen wird und deshalb absolut gut ist in meinen Augen, ist total fehl am Platze.
Darum wünsche ich mir – und versuche es auch selbst – mehr Perspektivwechsel vorm Losschreiben. Damit man einfühlsamer Ideen geben kann, Worte finden kann – und manche Vorschläge vielleicht auch einfach für sich behält!
Ich selbst habe für mich in den Jahren meiner Arbeit mit vielen verschiedenen Eltern zum Beispiel folgendes mitgenommen:
„Lass Dein Kind nie alleine, wenn es schreit!!“ Das war für mich immer DER Satz. Mein Limit, No Go, Da-fängt-Gewalt-an-Dings.
Aber inzwischen weiß ich: wenn jemand so an der Grenze ist, nicht rechtzeitig Hilfe geholt hat, alleine ist, alles zu viel war…, ist es besser, das Kind schreit kurz alleine in seinem Bett und er geht zum Durchatmen vor die Tür und schlägt seine Verzweifelung in die Küchenwand als sonst was. Dann kann er sofort wieder hingehen und Nähe geben. Sprich: ich schaue genauer hin, bevor ich urteile; ich versuche sogar, möglichst nicht mehr zu urteilen, vor allem nicht in Beratungsmomenten. Da verschließt sich das Gegenüber sofort. Verständlicherweise!
Pauschalisierungen sind einfach keine guten Hilfen. Und mit dem Gewaltbegriff gilt es vorsichtig umzugehen. Er ist schwer zu fassen, und sollte nicht übergeneralisiert verwendet werden.
Was wünschen sich die Bindungsträumer?
Wir Bindungsträumer möchten daher dazu anregen, den Begriff „Gewalt“ möglichst sparsam und nur gezielt und treffend zu verwenden und nicht (nur der Wirkung wegen?) gehäuft einzusetzen, um nachteilige Folgen zu minimieren! Aber: GEZIELT UND TREFFEND!
Lösungen für o.g. und andere Situationen, die wir Eltern mit unseren Kindern zu finden haben, können ganz bunt aussehen und durchaus „gesteuert“ sein. Im Attachment Parenting kann man wunderbar miteinander Regeln und Kompromisse finden, auch mit einem Baby und Kleinkind, das noch keine Diskussion führen, keine Argumente vortragen kann. Ihr begegnet Euren Kindern mit Respekt und Liebe, seht ihre Bedürfnisse und Eure, bringt sie in Einklang, sucht Kompromisse, die für beide Seiten passen und beide Seiten ernst nehmen – ihr begegnet Euch also gewaltfrei. Wenn eine Art der Bedürfnisbefriedigung nicht (mehr) für alle Beteiligten passt, werdet Ihr kreativ und sucht eine andere Lösung. Miteinander, in Beziehung.
Sie war, sie ist, sie bleibt.
Du hast die Wahl*
*Zitat über die Gewalt aus dem Song „Sie war, sie ist, sie bleibt“ von …But Alive
IH
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