25 Sep

Was ist Gewalt? – Teil 1

Erst diese Woche sprach mich wieder eine Mutter an, dass sie manchmal das Gefühl habe, die heutige Flut an Informationen in Büchern, Blogs und Zeitschriften und die Menge an Austauschmöglichkeiten im Netz sei nicht einfach nur bereichernd im Sinne von „Online-Clan“, sondern würde vor allem oft verunsichern und Themenbereiche erst problematisieren, die sie vorher gar nicht als problematisch aufgefasst habe. Sie würde beginnen, sich über Dinge Gedanken und Sorgen zu machen, die sie ohne die Lektüre einfach mit gutem Bauchgefühl bewältigt hätte und die ihr nicht ansatzweise als bedenkenswert in den Sinn gekommen wären, was bei vielem wohl auch gut gewesen wäre.

Muss man wirklich drüber nachdenken, ob man selbst nur seinem Kind etwas zum Geburtstag schenkt oder auch allen Geschwistern, damit es ja keine Enttäuschung gibt? Muss man immer aufpassen, dass man sich seinem am Boden liegenden Baby niemals so nähert, dass es den Hals überstreckt und über Kopf gucken muss? Muss man immer das akkurat messende, neumodische Badethermometer zur Hand haben oder reicht bei einer spontanen Planschorgie nicht einfach die Hand als guter, gesunder Ratgeber? Muss man sich Vorwürfe machen, weil man beim Stillen am Smartphone gelesen UND lauthals gelacht hat…und das Baby sich verschluckt hat?

Ich verstehe sie sehr gut und versuche im Austausch mit den Müttern, die ich begleite, immer Sicherheit mitzugeben. Lesen, Clan, Information – das kann Gold wert sein; es kann rückenstärkend wirken, Input geben für Diskussionen mit Menschen, die einem vorschreiben wollen, wie man mit seinem Kind doch bitteschön umzugehen hat – aber es kann genauso das Gegenteil bewirken! Verunsichern, überfordern, geradezu in Panik versetzen und Ängste schüren.

 

Wünsche an Schreibende und Lesende

Alle, die schreiben, sollten sich im Klaren darüber sein, dass sie ihre Worte wohl überlegt setzen sollten! Pauschalisierungen, Dogmen und das Aufbauen von angstmachenden Gespenstern helfen niemandem. Sachliche Informationen werden benötigt – und ganz viel Herz. Außerdem habe ich gelernt, dass es tausend Wege gibt und geben darf. Die Empathie, die wir immer so hochhalten und unseren Kindern mitgeben möchten, die sollten auch wir leben und zeigen: 

Alle, die lesen, sollten trotz hormoneller Schieflage, trotz Übermüdung, trotz größter Herausforderungen im Alltag immer versuchen, sich abzugrenzen: Versucht derjenige, der mit mir spricht oder dessen Text ich lese, mich zu sehen? Erfolgt eine echte Art von Austausch – ich kann mir etwas mitnehmen, ohne dass Schuld gesucht / zugeschrieben wird; bekomme ich Inspiration und Hilfe statt Vorwürfe? Werde ich niedergemacht oder werden Lösungen gesucht, Kompromisse, die versuchen, die Bedürfnisse aller Beteiligten unter einen Hut zu bringen? Und: werden Probleme thematisiert, die es in meinem Leben eigentlich gar nicht gibt? – Beim letzten Punkt und bei allem Negativen sollte man sich ruhig klar positionieren: man muss nicht alles zu Ende lesen, nicht jede Diskussion zu Ende führen. Man darf aussteigen. Man kann dabei höflich bleiben, wenn es ein Gespräch, ein schriftlicher Austausch ist, auch wenn es das Gegenüber nicht unbedingt ist – fürs eigene Gefühl ist das deutlich besser, als auf diesem Karussell mitzufahren.

 

Ein besonderer Vorwurf: Gewalt!

Für mich persönlich ist in letzter Zeit dieser Punkt, den die oben genannte Mutter ganz woanders gefunden hatte, immer wieder der Vorwurf: „Das ist Gewalt!“ Und ich bin nicht alleine damit. Einigen ergeht es so, dass sie an vielen Stellen dieser Anschuldigung begegnen, die für sie völlig überraschend bei ganz verschiedenen Punkten kommt und die sie verunsichert. Ich habe dazu nun so viele Gespräche und Austausche gehabt, dass ich das Gefühl hatte, ich muss mich dem ganzen einmal wirklich nähern und es wirklich erfassen, begreifen, denn die Verunsicherung, die das schürt, wenn es irgendwo steht – „Das, was Du da tust, ist Gewalt!“ – ist unfassbar groß. Wer möchte seinem Kind schon Gewalt antun?

Wo ist mir dieser Satz zum Beispiel begegnet?

„Es gibt kein sanftes Abstillen. Wenn das Kind sich nicht selbst abstillt, ist es Gewalt.“

„Wenn Dein Kind nicht selbst entscheiden kann, wann es in sein Zimmer geht, ist das Gewalt.“ – (Es ging um abendliche Absprachen, nicht um Strafen!)

„Alle Gegenstände, alles an Raum gehört jedem in der Familie. Wenn es nicht jederzeit jedem zugänglich ist, ist das Gewalt.“ (Auch hier ging es um Absprachen, nicht um Strafen, Entzug, Verbote o.ä.)

 

Mein Verständnis von Gewalt

Wie kann das als Gewalt empfunden werden? Ist das wirklich Gewalt? Ich möchte nicht meine Wahrheit, mein Empfinden als das Richtige hinstellen! Ich möchte eigentlich gerne verstehen, woher diese Sichtweise kommt und meinen Blick erklären sowie dafür sensibilisieren, mit dem Wort „Gewalt“ sehr sparsam umzugehen. Im folgenden werde ich erklären, warum.

Um bei den obigen Beispielen zu bleiben: Für mich persönlich wäre es Gewalt, wenn ich das Stillbedürfnis ignorieren würde. Wie ich beim Ferbern das Nähebedürfnis ignoriere.
Aber wenn ich wohl überlegt abstille, weil Mutter- und Kindbedürfnisse nicht zueinander passen, suche ich m.E. einen Kompromiss, gehe so gut in Beziehung wie es dem jeweiligen Alter entsprechend geht, biete Alternativen an, lasse das Kind nicht allein und ignoriert, sondern versuche geradezu zu „unden“. Ich sehe da keine Gewalt. – Für mich persönlich wäre es Gewalt, wenn ich beziehungslos mit meinen Kindern bliebe und ihnen ohne Gespräche, ohne etwas von ihnen zu wissen, ohne etwas von mir zu erzählen, vorschriebe, wann sie sich wo aufzuhalten haben in unserem Zuhause, sie gar wegtragen, vielleicht noch Türen verschließen würde. Ihnen mehrere wunderbare Räume herzurichten, ihnen schöne Tages- und Nachtzeiten zu geben, ihnen aber auch zu sagen (wenn sie ein Alter erreicht haben, in dem sie es verstehen können), dass ich Zeit für mich möchte, um zum Beispiel in Ruhe am Abend eine Freundin zu sehen oder einen Actionfilm zu schauen, der nichts für sie wäre, während sie in ihrem Zimmer Playmobil spielen oder einer Hörspiel-CD lauschen (und zu mir kommen können, wenn irgendetwas los ist), ist für mich keine Gewalt. – Für mich persönlich wäre es Gewalt, wenn ich mit ihnen Macht- und Gehorsam“spielchen“ vollführen würde um Fernseher, Tablets oder Computer, um Sofas, Esstische oder Kühlschrankinhalte oder was auch immer – aber wenn ich im Gespräch miteinander, in Beziehung zueinander, im Beachten der zeitlichen, kognitiven, emotionalen Möglichkeiten aller Familienmitglieder Regelungen, Absprachen allgemeiner oder auch täglicher angepasster Art finde, ist das für mich keine Gewalt.

– – – Bei detaillierterem Gespräch würden die Vorwürfe vielleicht auch zurückgenommen werden, aber hier und da stehen sie doch erstmal im Raum. Und wenn das ein Raum im Internet ist, dann stehen sie wirklich dort, lange nachlesbar, auch wenn sie später relativiert werden, und verunsichern wieder und wieder die lesenden Eltern.

G E W A L T . GEWALT!

Gewalt heißt für mich, dass jemand auf etwas oder jemanden einwirkt und es / ihn verletzt, beschädigt, kaputt macht. Er verwendet Zwang und Macht, hat nur sein Ziel vor Augen und missachtet sein Gegenüber. Er setzt sich durch, setzt sich über die Grenzen des anderen hinweg. Er lädt Schuld auf sich. Da ist kein Entgegenkommen, keine Beziehung, kein Miteinander!

(siehe auch unseren Blogtext Stell Dich an die Seite Deines Kindes! Ein Plädoyer gegen psychische Gewalt)

Das kann natürlich ganz unterschiedlich aussehen und muss nicht immer offensichtlich sein, nicht immer der Faustschlag, der Tritt, das Körperliche. „Manchmal kommt sie laut, viel öfter ist sie still,“ sangen schon … But Alive. Psychische Gewalt ist schwer einzugrenzen und jeder zieht da die Grenzen vielleicht marginal etwas anders. Wenn ein Kind auf einer Party versucht, seine Eltern davon zu überzeugen, das gleiche zu dürfen wie angeblich „alle anderen“ und von einigen erwachsenen Partygästen hinter mehr oder weniger vorgehaltener Hand ausgelacht wird, ist das dann schon Gewalt? Wenn ein gerade in die Pubertät gekommenes Mädchen als Vorbereitung auf eine OP ohne Vorwarnung vom Kieferchirurgen zum Abhören des Herzens das T-Shirt „hochgerissen“ bekommt und ihr das unglaublich unangenehm ist, ist das dann schon Gewalt? Wenn ein Vater zu seinem Sohn im Eifer des Gefechts bei einem Streitgespräch sagt, er verhalte sich absolut asozial, ist das dann schon Gewalt? – Denkt Ihr noch darüber nach?

 

(Wann passt die Vokabel „Gewalt“? Wann sollte ich sie – als Kommentator, Blogger, Familienbegleiter etc. nutzen und wann nicht? – Fortsetzung hier.)

 

IH

7 Gedanken zu „Was ist Gewalt? – Teil 1

  1. Pingback: Was ist Gewalt? – Teil 2 | bindungstraeume.de

  2. Sehr schönes Thema! Wir müssen uns alle als BloggerInnen immer wieder in Klären darüber sein, welche Auswirkungen unsere Worte auf unsere LerserInnen und MitdiskutantInnen haben! Ist denn ein Gewaltvorwurf selbst nicht auch irgendwo Gewalt? Vielmehr als Vorwürfe machen sollten wir darin unterstützend wirken, den Blick für andere Sichtweisen, für die eigenen Verhaltensweisen und für die Bedürfnisse hinter dem Handeln anderer zu schärfen und neue Lösungsoptionen aufzuzeigen. Austausch sollte in Vielfalt münden und nicht in Diktatur und Verurteilung! Danke für den Artikel und die Denkanregungen!
  3. Gewalt ist die Machtdisposition, anderen den eigenen Willen aufzuzwingen. Das hat wenig mit Verltzen, Kaputtmachen oder dergleichen zu tun.
    • Die Sache mit dem Zwang steht ja direkt im nachfolgenden Satz. Der Absatz ist schon als Kompletterklärung meiner Sicht zu sehen und nicht zu zerpflücken. :-)
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