William und Martha Sears – raus aus der AP Gruppe!
Stellen wir uns eine unsichere Neu-Mama vor, die beim Stillen auf dem Handy daddelt und dabei mehr oder weniger zufällig in irgendeine AP-Facebookgruppe stolpert. Was wird sie dort lesen? Dass Attachment Parenting dafür steht, mit sich selbst und seinem Kind liebevoll und großzügig umzugehen? Eher nicht. Sie wird beim ersten Durchscrollen eher erstmal erfahren, was bei AP alles verboten ist: Man darf keine gemeinsamen Mahlzeiten erwarten, kein Grüßen, keine Entschuldigungen, kein Dankeschön, ja selbst das Erziehen ist verpönt – puh, denkt sich unsere Neu-Mama, das klingt ja alles ganz schön krass.
Sie liest weiter und erfährt, dass bei AP das Kind außerdem jahrelang gestillt, ausschließlich getragen und familiengebettet werden muss. Und wenn der Papa damit nicht zurechtkommt, schläft er eben auf dem Sofa.
Gut möglich, dass das Interesse der Mutter an AP nach diesem ersten Einblick schlagartig erlischt. Denn das, was sie liest, klingt so radikal und kompromisslos, dass sie das Gefühl hat: als ganz normale Mama passe ich hier nicht hin. Schließlich scheint es nur einen richtigen Weg zu geben, AP zu leben. ‘Und bevor ich etwas falsch mache und mir immer wieder anhören muss, ich wäre nicht gut genug, ich müsse unbedingt dieses tun und jenes lassen und überhaupt sowieso völlig auf Erziehung verzichten, kann ich es ebenso gut auch gleich ganz lassen mit dem Versuch, bindungsorientierter zu leben,‘ denkt sich unsere Neu-Mama und klickt auf ‚Gruppe verlassen.’
Was für eine verpasste Chance!
Wir von Bindungs(t)räume finden: Der erste Kontakt mit AP muss ganz anders verlaufen. Junge Eltern müssen spüren, dass sie hier empathisch und ohne erhobenen Zeigefinger begrüßt werden, ohne für ihren bisherigen Umgang mit ihrem Kind verurteilt zu werden. Die Botschaft muss lauten: „Toll, dass Du Dich für einen bedürfnisorientierten Umgang mit Deinem Kind interessierst und diesen auch schon im Alltag immer wieder lebst! Deine Fragen beschäftigen viele Eltern und wir können Dich schon mal beruhigen: AP bedeutet weder, dass es keine Regeln gibt, noch, dass Du Dein Kind nicht erziehen darfst. Entscheidend ist, WIE das alles passiert.“
Was würden wohl William und Martha sagen?
Bei aller verständlichen Leidenschaft, am liebsten die ganze Welt zur hundertprozentigen Bindungsorientiertheit nach unserem Verständnis bekehren zu wollen, sollten wir immer daran denken: Attachment Parenting ist bunt und vielfältig und kann auf ganz unterschiedliche Weise gelebt werden. So wurde das Konzept etwa ursprünglich von dem kanadischen Kinderarzt William Sears und seiner Frau Martha als Konzept für die Babyzeit entwickelt, in der kleine Kinder keine Wünsche haben, sondern nur Bedürfnisse. Diese zu lesen und prompt und angemessen zu erfüllen, ist deshalb der Kerngedanke von AP. Wie es danach weitergehen soll, lässt Sears selbst ziemlich offen und sagt nur, auch der weitere Umgang solle auf Vertrauen und Respekt basieren. Was das genau für jede individuelle Familie heiße, müssten Eltern und Kinder gemeinsam herausfinden.
Sears selbst ist dabei als evangelikaler Christ einen eher konservativen Weg gegangen und hat seine Kinder mit vielen teilweise recht strengen Regeln groß gezogen. Mit seiner Frau Martha bestand er auf gemeinsamen Mahlzeiten, Gebeten vor dem Essen und dem Schlafengehen, aber beispielsweise gab es auch ein Verbot von Übernachtungspartys. Bindungsorientiert war sein Umgang mit seinen eigenen Kindern nach seiner eigenen Definition trotzdem, weil er sie niemals schlug und auch nicht bestrafte oder beschämte. Es gab einfach Dinge, die waren nicht erlaubt. Punkt.
In Deutschland hat der Begriff AP in den vergangenen Jahren einen ziemlichen Bedeutungswandel erfahren. Die Sears´sche Kindererziehung würde heute in vielen bindungsorientierten Facebookgruppen als „absolut nicht AP“ bezeichnet werden. William und Martha Sears würden heute wohl in hohem Bogen aus der deutschsprachigen AP-Gruppe fliegen. Schließlich haben sie mal in einem Interview gesagt, AP schaffe die perfekte Grundlage für wohlerzogene Kinder, denn wer in seinen Bedürfnissen gesehen wird, ist auch gerne gehorsam.
Was für eine Anmaßung!
Im Grunde genommen ist es nämlich so: Ob ein Kind respektvoll und bindungsorientiert ins Leben begleitet worden ist, kann letztlich nur ein Mensch wissen: das Kind selbst. Es spürt, ob ihm in seinem Zuhause Regeln hart und rücksichtslos aufgedrückt werden, oder ob sie eher als schützender, gleichzeitig jedoch auch flexibler Rahmen dienen. Es kann sich durch einen Blick in sein Smartphone kontrolliert oder begleitet fühlen, sich im Familienleben als unterdrückt oder als gesehen und ernst genommen erleben. Und auf diesen Unterschied kommt es letztlich an.
AP kann auf ganz unterschiedliche Weise gelebt werden, und auch das AP-Verständnis unseres Vereins ist nur EIN Weg von vielen, bindungsorientiert zu leben. Was wir darunter verstehen, haben wir im Bindungs(t)räume Manifest in Worte gefasst und dabei bewusst ganz viel Raum zur eigenen Interpretation und Umsetzung gelassen.
Sich davon das herauszusuchen, was zur eigenen Familie passt, ist für uns kein „Rosinen picken“ und keine Doppelmoral. Für uns ist AP keine Frage von „ganz oder gar nicht“. Es ist auch okay, nur „ein bisschen AP“ zu sein. Jeder Schritt in Richtung Bindung ist gut. Wenn Eltern von ihrem Kind erwarten, dass es bei gemeinsamen Mahlzeiten sitzen bleibt, es aber jeden Abend liebevoll einschlafbegleiten – dann ist schon viel gewonnen. Es geht um die Bedürfnisse aller Familienmitglieder. Und wenn eine Mama gewisse Dinge einfach möchte und diese liebevoll und kindgerecht vermittelt, ist doch alles okay. Es gibt verschiedene Wege, und auch mit Reglementierung und Regulierung kann ich in Beziehung bleiben – manche Kinder brauchen dies sogar.
Achtzig Prozent AP zu leben ist nicht halbherzig, sondern achtzig Prozent mehr Liebe, Respekt und Wertschätzung, als viele andere Kinder erleben. Nicht jeder hat die Ressourcen, alles zu hundert Prozent umzusetzen, und das muss auch gar nicht sein. Und wenn jemand an irgendeinem Punkt das Gefühl hat, hier ist Schluss mit AP, finden wir das zwar schade (weil wir denken, es gibt IMMER einen bindungsorientierten Weg, wir müssen ihn nur finden), aber wir denken auch: Hey, bis hierhin hat das Kind schon mal viel Begleitung bekommen, dann hat es jetzt hoffentlich auch die Resilienz, ein wenig „Basta!“-Erziehung wegzustecken.
Keinem von uns steht es zu, den anderen zu definieren. Wer wären wir, anderen sagen zu wollen, ob sie bindungsorientiert sind oder nicht? Jeder, der sich um ein bedürfnisorientiertes Familienleben bemüht(!), ist bei uns willkommen und richtig. Denn der respektvolle Umgang, für den wir uns stark machen, endet nicht bei unseren Kindern. Er gilt auch all den Müttern und Vätern, die in den Weiten des Internets ganz zufällig in eine AP-Gruppe stolpern.
Diesen Text haben Nora und Mildi zusammen verfasst, er enthält außerdem auch noch Zitate von Silke, Diana, Inke und Biggi (Mitglieder bei Bindungs(t)räume).
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