Blick nach vorn!
„Ich stecke fest. In diesem Alltag. Immer wieder Streit mit den Kindern. Ständig diese Wut. Ausraster, Brüller, Tober. Nichts wollen sie annehmen, obwohl ich es doch nur gut meine. Gestern war es so noch okay, heute ist genau dieser Weg absolut verkehrt. Ich werde beschimpft, ich werde gehauen, Sachen werden geworfen. Ich will das nicht. ICH WILL DAS NICHT!! Ich will meine Ruhe. Ich will, dass wir uns vertragen. Ich komme ihnen doch schon so oft entgegen, suche Kompromisse. Warum sind sie so zu mir??“
So oder so ähnlich kennt Ihr das bestimmt. Eine meiner größten Aufgaben in der Familienberatung ist es, den Eltern nahezubringen, dass sie es gut finden können, wenn Ihr Kind Wut auslebt und mit Ihnen streitet. Genauso wie wir lernen können, es gut zu finden, dass unsere Kinder selbstbewusst „Nein“ sagen können oder aber „Ich brauche von Dir…“. Damit sie auch außerhalb der Familie und später im Leben „Nein“ sagen und Bedürfnisse äußern können. Das sind alles wichtige Schritte auf einem gesunden Weg der Persönlichkeitsentwicklung.
Das gute Baby, das böse Kind!
Aber warum tun diese Schritte so weh, stressen uns so? – Weil es Arbeit ist. Weil die Kinder unsere Hilfe brauchen. Weil es ein Prozess ist, der da stattfindet. Wie jedes Lernen. Und wir haben zweitausend andere Verpflichtungen, die ersichtlicher sind…darum würden wir diese hier gerne einfach rasch ad acta legen. Das funktioniert nur leider nicht!
Kinder stehen nicht auf und können von jetzt auf gleich laufen; sie müssen üben, durch verschiedene Motorikphasen gehen, Muskeln ausbilden, Balance einüben, bis es endlich funktioniert. Sie können nicht von jetzt auf gleich eine Fremdsprache sprechen, nur weil man ihnen mal ein paar Vokabeln gibt und ein Buch in der Sprache vorliest; sie müssen üben, lesen, hören, probieren, Fehler machen, durchhalten.
Bei der emotionalen Entwicklung ist das ganz genauso! Doch unser Umfeld hat dafür nicht immer Verständnis (und wir dadurch auch oft nicht).
Im Babyalter ist es meist noch etwas einfacher. Schreit das Baby, nehmen wir es hoch; ist ihm zu viel los, bringen wir es an einen ruhigeren Ort; kann es nicht schlafen, unterstützen wir es. Auch das ist emotionale Entwicklung, und wir helfen dabei. Das Baby kann uns nicht bitten, aber im Normalfall spüren wir, dass wir gebraucht werden.
Ab dem Kleinkindalter ist das manchmal nicht mehr so. Oft haben Erwachsene dann „Der manpuliert uns doch und stellt unser ganzes Leben auf den Kopf!“ im Ohr – und dadurch nicht mehr die gleiche Bereitschaft zu helfen wie bei einem Baby. Es stört dann, dass Kinder besonders laut sind, wenn sie sich freuen, dass sie ihr Wut ungezügelt zeigen oder dass sie aggressiv werden. Das soll doch bitte, bitte einfach vermieden werden. Rasch unterdrückt. „Hör auf damit!!“
„Er ist doch schon 4!! Das muss jetzt aber mal klappen. Bald kommt er in die Schule. Wie soll das denn dann werden?!“*
Solche Sätze kennt Ihr bestimmt – und da wollen die Bindungsträumer Euch den Rücken stärken: Nein, unser Job ist noch lange nicht vorbei! Nein, das lernen die Kinder nicht einfach so, von alleine, schnell-schnell. Sie lernen es auch nicht einfach durch unser gutes Vorbild und nette, erklärende Worte.
Sie müssen da durch! Sie müssen es erfahren! Sie wollen (und können lange Zeit) gar nicht manipulieren, sondern lernen. Sie brauchen Zeit und Gelegenheiten. Und Helfer!
*Nicht irritieren lassen: In wenigen Monaten passiert bei einem Kind manchmal wahnsinnig viel. Sich darüber aufzuregen, ob die wilde 4-jährige mit 6 wohl mal 45 Minuen ruhig in der Schule wird sitzen können, ist nicht sehr sinnvoll. Wir müssen JETZT schauen, was wir zu tun haben, nicht JETZT Angst haben vor IRGENDWANN.
Wut und Konflikte als Entwicklungsgelegenheiten
Sie brauchen wie auch in anderen Bereichen (Motorik, Sprache, Kognition, Moral…) unsere Hilfe. Und ja: Ein krummer Rücken, wenn das Kind gerade laufen lernt, ist anstrengend. Ewig das gleiche Buch vorzulesen, ist anstrengend. Jede dieser Hilfen ist anstrengend.
Und: Die emotionale Entwicklung zu unterstützen ist auch noch der Marathon der Begleitung! Das ist nicht schön. Das haben wir uns so nicht vorgestellt mit duftendem Säugling im Arm. Aber nochmal: Das ist unser Job. Wir müssen etwas tun – nicht es „wegwünschen“.
Wir müssen helfen. Es gehört zur gesunden Entwicklung wie gutes Essen, Bewegung, Bildung. Auch dafür sorgen wir. Was wir unseren Kindern also geben können ist das Schaffen und Zulassen von Entwicklungsgelegenheiten, anstatt Konfliktsituationen immer wieder zu vermeiden. Es ist kein Geschenk an unsere Kinder, sie ewig in Watte zu packen. Heftige Momente und auch langwierige Durststrecken gehören dazu. Tägliche Auseinandersetzungen mit uns, mit Geschwistern, mit Feunden gehören dazu. Wir müssen das aushalten lernen, die Kinder sich probieren lassen, lösungssuchend Orientierung geben, wenn nötig. So können die Konflikte eine Chance sein, sowohl für alle beteiligten Personen als auch für ihre Beziehungen zu einander. (In Partnerschaften von Erwachsenen ist es im Prinzip das gleiche: Nur in Konflikten können wir Kompromisse erschaffen und wieder zusammenfinden, wenn wir auseinanderdriften. Wir lernen uns und unser Gegenüber besser kennen und erfahren im Tun mögliche Lösungsstrategien.)
Das Ziel ist: Gelassenheit und Annehmen der Konflikte sowie Arbeiten mit allen auftauchenden Gefühlen – statt Wegwünschen und Negieren.
Aber wie gehe ich durch den Konflikt?
Das Wichtigste ist, den Blick nach vorne zu richten! Konfliktbewältigung sollte lösungsorientiert geschehen – nicht schuldorientiert! Was ist das Problem, wo wollen wir hin? Nicht: Wer hat das alles losgetreten? Oder gar: Wen muss ich hier mal beschimpfen und bestrafen??
Warum Lösungsorientierung? Wieso keine Schuldsuche? Wofür auf Strafen verzichten? Für unsere Beziehungen. Für unser Wohlbefinden. Und für die emotionale, kognitive, soziale und moralische Entwicklung unserer Kinder. Damit sie das alles irgendwann alleine können. Im Kleinkindalter gehören unglaubliche Gefühlsausbrüche dazu – und das kann nur „besser“ / anders werden, wenn man Alternativen erlernt, sich ausprobiert, in einem akzeptierenden Umfeld.
Viele Erwachsene können das noch nicht mal – ihre Emotionen immer kontrollieren! Sie fluchen im Internet, sie toben im Straßenverkehr, sie reden ohne nötigen Respekt mit Kollegen oder gar ihrem Partner. Sie haben es nicht besser gelernt. Wie sollen es unsere Kinder können ohne Hilfe?!
Was heißt das praktisch im Alltag? Für uns? Für das Kind? Für bestimmte (immer wiederkehrende) Situationen?
Erst mal heißt es, einen guten Mittelweg zu finden – zwischen den Ängsten, die durchaus unbewusst in uns allen stecken und erwachen können. Wenn wir an unser tobendes, wütendes Kind denken, kann sich entweder das eine oder das andere Extrem melden:
- die Angst, unserem Kind etwas zuzumuten, was es verstimmen/überfordern könnte (ÜBERBEHÜTEND), oder
- die Angst, dass unser Kind ein Tyrann wird, wenn wir nicht hart gegensteuern (GEFÜHLSKÜHL)
Beides ist kein guter Ratgeber, aber beides ist doch wichtig, um seinen eigenen Weg zu finden. Den Mittelweg. Der sieht vor, dass wir
- unseren Kindern Dinge zumuten – damit sie lernen, sich entwickeln, in der Gesellschaft zurecht kommen und auch das beste Potential aus sich selbst herausholen
- unseren Kindern ein „Leitwolf“ sind, Orientierung geben, uns selbst nicht vergessen, den Kindern zeigen, was okay für uns ist und was nicht
- und bei allem: unseren Kindern liebevoll begegnen, sie in ihrer Persönlichkeit und ihrer Entwicklung sehen, sie nicht überfordern, Lösungen in Beziehung / Kontakt suchen, nicht in Bestrafung und Willkür
Es ist nie zu spät, hier doch noch einmal etwa anders zu machen, wenn man den Eindruck hat, bisher ist es anders und sehr blöd gelaufen. Man muss sich nicht schämen und schlecht fühlen. Es ist auch niemals zu spät, nochmal anders, bewusster auf sein Kind zuzugehen, mit mehr Wissen, an sich selbst zu arbeiten, dass eigene Kind besser verstehen zu wollen, um besser auf es eingehen zu können.
Und ja: wir Eltern müssen selbst sehen, was wir für uns tun können, um die Kraft für diese Aufgabe zu sichern und um im Alltag aller Erfordernisse (ggf. auch als Paar) nicht unterzugehen. Das ist die andere große Hürde.
Die Fragen, die wir uns jetzt stellen, hinsichtlich eines besseren Umgangs mit Konflikten und Wut bei unseren Kindern, und die Antworten, die wir jetzt suchen und hoffentlich finden können – all der Aufwand, den wir jetzt machen, wird sich aber lohnen, weil es dadurch später für uns und vor allem für unsere Kinder einfacher, lebenswerter, glücklicher wird. Ein Kind, dem Liebe gezeigt wird, obwohl es tobt, ein Kind das angehört wird, obwohl es eine andere Meinung hat, ein Kind, dem geholfen wird, anstatt ihm gleich Vorwürfe zu machen und mit Strafen zu begegnen – so ein Kind wird viel wahrscheinlicher ein fair und offen diskutierender Jugendlicher und ein beziehungsstarker Erwachsener werden können.
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