26 Apr

Seht Ihr Euer Kind und vertragt seine Wahrheit?

In unseren Texten Belohnungssysteme gegen Wutausbrüche – Deckel drauf und gut? und Ja zum Nein! Von Herzen sowie auch an vielen anderen Textstellen sind wir darauf eingegangen, wie wichtig es ist, Kinder zu ermuntern, ihre Gefühle zu äußern, und eine Atmosphäre zu schaffen, in der alles sagbar ist: Wut, Angst, Glück, Unsicherheit, Freude, Unwohlsein, Fragen, Kritik – auch an uns Eltern…

In Gesprächen, Beratungen, im eigenen Erleben und im Austausch mit Freunden ist klar geworden, dass wir hier noch einmal tiefer gehen möchten. Wir möchten den Finger nochmal genau auf die Punkte legen, die unseres Erachtens das Wohl der Kinderseelen ausmachen, aus denen offene, gesunde und starke Erwachsenenseelen werden sollen. Denn das ist doch, was wir uns alle wünschen, was erwachsen soll aus der guten Bindung, den Wurzeln, die die Kinder bei uns haben: Selbstvertrauen, Flügel!

Im Alltag mit Kindern gibt es immer wieder kleine Situationen, in denen der Weg sich gabelt. Das können für sich betrachtet absolute Nichtigkeiten sein, zumindest aus unseren Augen… Aber wir Großen bestimmen mit, ob unser Kind in der Summe betrachtet gesehen wird, ob es ein Mensch wird, der frei äußern kann, was er in solch einem Moment fühlt / was sein Bauchgefühl ihm sagt. Wir bestimmen mit, ob es sich ernstgenommen fühlt, ob es Worte finden kann für das Empfundene und dies nach und nach besser bewerten kann, um daraus resultierend Entscheidungen zu fällen.

Vielleicht erinnert Ihr Euch selbst noch an solche Momente aus Eurer Kindheit, denn diese Situationen, in denen wir nicht gesehen wurden, in denen uns über den Mund gefahren wurde, in denen etwas für uns Großes abgetan oder verlacht wurde, die bleiben oft hängen. Und wirken und wirken. Auch wenn wir aus heutiger Sicht vielleicht hier und da verstehen, warum unser erwachsenes Gegenüber damals so oder so gehandelt hat (Hektik, eigene Traurigkeit, Überforderung, Unsicherheit…), so spüren wir wahrscheinlich dennoch das Schloss, das uns damals in diesem einen Moment vor den Mund gemacht wurde – vielleicht sogar in ganz vielen Momenten.

Foto: Hummel privat.

Ihr benötigt Beispiele?

Traut sich Euer Kind zu sagen, dass ihm auch das achte Paar Schuhe nicht gefällt oder drückt, das die lustlose Verkäuferin bringt, obwohl Ihr schon im dritten Schuhgeschäft seid? Ist dafür Zeit? Habt Ihr Verständnis?

Mag es erzählen, dass es traurig ist, weil es in der Schule geärgert wird, obwohl es spürt dass Ihr selbst niedergeschlagen seid, weil Euer Leben gerade nicht läuft wie geplant? Ist dafür Platz? Lasst Ihr ihm Raum?

Kann es Tränen rauslassen, wenn ihm der Alltag im Kindergarten zu viel wird und es sich nichts mehr wünscht, als mal einen Tag zu Hause zu bleiben und durchzuatmen? Vielleicht mal mitzugehen und zu sehen, wo die Mama mit dem Baby morgens spielen und singen geht? Ist dafür Raum und Kraft da? Oder gilt es als Heulsuse? Soll es sich zusammenreißen? An die Blicke und Kommentare der anderen denken?

Traut sich Euer Kind, offen zuzugeben, dass es nicht nur beim Silvesterfeuerwerk, sondern auch in der Schulklasse besser mit Gehörschutz arbeiten kann, obwohl es damit anders ist als andere und vielleicht ein blöder Spruch kommt? Ist sein Rücken stark genug? Lebt Ihr vor, dass die Meinung der anderen da nicht wichtig ist, weil sie nicht alle Argumente kennen, nicht die ganze Geschichte?

Und mag Euer Kind Euch ehrlich sagen, wenn Ihr es zu Unrecht häufig im Geschwisterstreit als „Täter“ bezeichnet? Oder wenn es sich anderweitig benachteiligt fühlt? Ist Eure Beziehung dafür eng und offen genug, dass es Euch daraufstoßen kann, dass etwas schief läuft? Sind die Gesprächsmöglichkeiten da?

→ Es ist dabei erstmal relativ unerheblich, ob Ihr am Ende wirklich die Dinge in die Tat umsetzt, die angesprochen werden. Wichtig ist, dass sie raus können! Und dass Ihr gemeinsam Wege zur Lösung findet. Ist das Kind beispielsweise nach reiflichen Überlegungen doch zu schüchtern, als einziger in der Klasse einen Gehörschutz anzulegen, ist das natürlich nicht Euer Weg. Aber Ihr habt erfahren, was los ist im Kind, und könnt schauen, was für Alternativen es gibt.

Entscheidend ist: Kann Euer Kind sicher sein, dass Ihr es seht und vor allem diese / seine Wahrheiten vertragt?

 

Was passiert sonst?

Wenn es nicht sicher sein kann, wird es vielleicht beginnen zu lügen, um Stress zu vermeiden oder um Euch zu schützen, weil es das Gefühl hat, die Wahrheit könnte Euch überfordern. Oder es wird anfangen zu schweigen über diese Empfindungen und ggf. schauspielern.

Es wird Schuhe nehmen, die drücken. Es wird lachend sagen, wie toll die Schule ist und wie viele Freunde es hat. Es wird klaglos in den Kindergarten gehen.

Und vielleicht wird es irgendwann explodieren und alle werden sich wundern, was los ist. Oder diese Art des Umgehens mit den eigenen Gefühlen, der eigenen Wahrheit wird sich eingraben in sein Verhalten. Es wird so bleiben, auch als Teenager und Erwachsener. Das wieder loszuwerden, wird harte Arbeit sein. Es wird den Menschen und seine Beziehungen in vielfältigem Maße belasten.

 

Immer diese Schwarzmalerei… Schafft man das überhaupt?

Sehr wahrscheinlich wird es in unserem Alltag nicht immer möglich sein, alles immer zu sehen und zu hören. Je mehr Familienmitglieder und sonstige Anforderungen da sind, umso schwieriger wird es sicherlich. Aber die Haltung, die Offenheit, die Atmosphäre dafür sollten grundlegend für bindungsorientierte Elternschaft sein. Dann kann ein Kind ebenso wie ein Erwachsener auch ein „Dafür habe ich jetzt gerade echt keine Zeit!“ mal aushalten, ohne sich selbst sofort in Frage zu stellen.

IH