Heute kam ein Riese heim!
Als mein erstes Kind 4 Jahre alt war, wurden um mich herum alle hektisch: „Du musst ihn zum Schwimmunterricht anmelden, sonst bekommt er keinen Platz im nächsten Jahr! Und mit 5 muss man spätestens starten!“ Ich ließ mich mitziehen von diesem Tross, meldete ihn an bei den überfüllten Vereinen, landete auf einer langen Warteliste und wurde ein Jahr später angeschrieben, dass wir nun endlich kommen dürften.
Mit 5 Jahren stand er da am Beckenrand, im Badehöschen, gerade mal etwa 110 cm groß, dünn, zähneklappernd, ängstlich. Ich hatte alles mehrfach mit ihm durchgesprochen, ihm alles in Ruhe gezeigt, Zuversicht vermittelt, war sicher, wir würden etwas Wichtiges, das Richtige tun. Schwimmen! Diese lebenspraktische Kernkompetenz, ohne die es doch nun wirklich nicht ging. Und jetzt war er doch so weit. Mit 5, na klar!
Das Wasser war 90 cm tief. Die Kinder mussten 1 m groß sein, um dabei sein zu dürfen. Einige Eltern hatten auch kleinere Kinder angemeldet und mussten sie nach einer Probemessung im Becken wieder mitnehmen. Manche Kinder waren erleichtert und konnten ihr Glück kaum fassen. Ein kleines Mädchen, das unbedingt schwimmen lernen wollte und super mutig zum Messen ins Becken gesprungen war, weinte vor Enttäuschung, dass sie nicht teilnehmen durfte, weil es den Trainern zu gefährlich war.
Nach einer kurzen Begrüßung sollten die Eltern die Halle verlassen. Das sei besser für die Kinder, einfacher für die Trainer. Ich blieb (mit unserem jüngsten Baby schlafend auf dem Arm) sitzen, gab dies nur kurz bekannt, hielt mich aber ganz im Hintergrund. Mein fünfjähriger Zwerg versuchte, mutig zu sein, versuchte mitzumachen.
Er litt, er zitterte, er weinte.
Ich ließ ihn nicht allein. Ich begleitete ihn, redete, tröstete, kuschelte. Wir versuchten es in der nächsten Woche wieder. Im Gegensatz zu den anderen durfte er eine Schwimmbrille tragen. Eigentlich sollten die Kinder dies nicht, um sich sofort an das Wasser in den Augen zu gewöhnen, doch er war mit Brille ein bisschen mutiger. Angst und Kälte blieben aber.
Wieder eine Woche später stand er trotzdem mit mir am Beckenrand. Wir hatten einen Neopren-Shorty besorgt, der ihn wärmer hielt. Niemand außer ihm trug in der Halle so ein Ding, aber es war ihm egal. Ihm war warm. Er wollte es versuchen. Die Kälte war besiegt. Doch die Angst kam zurück – und mit ihr ein schlimmer Hautausschlag. Wir brachen ab.
In ein dickes Handtuch gehüllt erkannten wir zusammen in der Umkleide, dass es ganz egal ist, wann andere was machen. Er war noch nicht so weit. Wir vergaben uns nichts, wenn wir warteten.
Mit 3 hatten wir das erste Fahrrad gekauft – er hatte zu viel Angst zum Üben, auch mit 4 noch, mit 5 1/2 hatte er es gelernt. Mit dem Schwimmen würde es genauso laufen! Ich war zuversichtlich.
Aber es war ein Prozess. Ich als Mutter musste erst lernen, mein Kind genau zu sehen. Jedes meiner Kinder für sich. Jedes ist zu einem anderen Zeitpunkt soweit.
Man kann alles anbieten, aber nicht enttäuscht sein, wenn es noch nicht angenommen wird – nicht angenommen werden kann. Die Zeit wird schon kommen. Plötzlich wird geradelt, geschwommen, gelesen, alleine im Kinderzimmer gespielt, neugierig vom gestern noch ekligen Raclettekäse probiert, alleine bei einem Kindergeburtstag geblieben, alleine mit der U-Bahn in die Stadt gefahren…
Alles zu seiner Zeit.
Und dann geschehen manchmal Dinge, die konnte man sich früher kaum vorstellen. Mit 7 war er erneut im Seepferdchenkurs gestartet. Der ehemals kleine zittrige, ängstliche Zwerg war inzwischen im Schwimmverein gewesen, durchpflügt nun nur so das Becken, ist Klassenbester im Schwimmunterricht und brachte von der letzten Kraulprüfung tatsächlich stolz eine 1+ mit nach Hause. An jenem Tag kam wahrlich ein Riese heim!
IH
Ein Gedanke zu „Heute kam ein Riese heim!“