Wem die Stunde schlägt… – Was braucht mein (Vor-)Schulkind?
Zurzeit werde ich am häufigsten mit Fragen zu den Bereichen Einschulung, Vorschulalter, „Zahnlückenpubertät“, Schulwahl, erstes Schuljahr, Klassenkameraden, Klassenlehrer und diesem ganzen Feld konfrontiert. Die Unscherheit ist groß, Ängste sind da, Sorgen – tatsächliche und von außen herangetragene. Ich habe mit vielen Familien gesprochen, verschiedene Kinder kennengelernt, bin ganz unterschiedlichen Temperamenten begegnet und sehr verschiedenen Fragestellungen.
Anfangs waberte in meinem Kopf die nebulöse Idee, ich könnte einen Text darüber verfassen, was beispielsweise die kognitive und emotionale Entwicklung mit 5, 6, 7 Jahren in etwa anbelangt, wie weit Kinder dies und das schon können und wo sie leicht überschätzt oder auch unterfordert sein können, wie man ihnen begegnen und helfen könnte – vielleicht hinsichtlich der Impulskontrolle und der Selbstregulation, der Kooperation oder der Kommunikation mit Gleichaltrigen.
Zum einen gibt es aber schon sehr viele Texte – und auch sehr empfehlenswerte; zum anderen, habe ich nach meinen Gesprächen und Beratungen aber auch den Eindruck bekommen, ein Text in diese Richtung kann all‘ die indviduellen Gegebenheiten, die verschiedenen Situationen gar nicht ausreichend abdecken, so wie ich es mir vorstelle. Dafür habe ich schon zu persönlich und speziell hingeschaut in einigen Familien, um das verallgemeinernd und kurz herunterschreiben zu wollen.
Des Weiteren bin ich wärend meiner Recherchen und meiner Notizen an den Punkt gekommen, wo sich mir zusammen mit meinen bisherigen Erfahrungen ein bestimmter Aspekt immer wieder vor die Augen schob, so dass mir klar wurde, dass es eigentlich nur dieser sein kann, den ich in einem Artikel für Bindungs(t)räume zu diesem Thema in den Mittelpunkt stellen möchte: bindungs- und beziehungsorientierte Eltern sollten im Hinblick auf ihre Vorschul- und frisch eingeschulten Kinder meines Erachtens eigentlich vor allem nur eines im Blick haben – nämlich das „attached“ sein, das Verbundensein!
Ob das Kind die Schnürsenkel selbst binden kann, ob es den Stift richtig hält, ob es feste Schlafenszeiten hat, ob es bereits Mengen erkennen kann, ob es sich auf der Toilette perfekt abputzen kann, ob es schon mal gehört hat, wo die Babys wirklich herkommen, ob es schon mal woanders übernachtet hat…all‘ diese Tipps aus Elternzeitschriften unter der Überschrift „Was Ihr Kind vor der Einschulung unbedingt können / wissen sollte“, sind aus meiner heutigen Sicht zweitrangig. Für all‘ diese Dinge gibt es Lösungsmöglichkeiten, die auf liebevolle Art und Weise machbar sind, im Rahmen der Möglichkeiten und Bedürfnisse eines jeden Kindes.
Ein Kind muss nicht perfekt ausgerüstet für alle Eventualitäten in die Schule kommen; wir müssen uns nicht sorgen, dass es in jedem Moment DIE perfekte und von uns vorgekaute Lösung parat haben wird. Viel wichtiger ist ein gestärkter Rücken in diesen Momenten und ein sicheres Gefühl im Bauch – dann wird unserem Kind eine kluge Lösung einfallen und es wird sich nicht alleine und hilflos fühlen, auch wenn es ohne uns in einer großen, fremden Menge oder aber einem kalten, einsamen Flur steht. Es wird unsere Wärme im Herzen tragen, unsere Stimme im Ohr, und es wird wissen, dass wir da sind, wenn es heimkommt, und sich sofort alles lösen lassen wird, was unklar geblieben ist.
Attachment Parenting im (Vor-)Schulalter – was heißt das denn?
Attachment Parenting für (Bald-)Schulkindeltern heißt nämlich: Hinsehen, Hinspüren, Dasein, Zuhören, auch selbst Erzählen im Dialog (denn so bekommt man die beste Antworten zurück), Zeit haben und sich Zeit bewusst nehmen.
Konkret: Wenn man von Beginn des Lebens seines Kindes an um eine enge Bindung und eine gute Beziehung bemüht war, sich in guter Kommunikation und einem positiven Miteinander in der Familie geübt hat, ist schon sehr viel gewonnen. Dann kann man „die Schule“, die Mitschüler, die Lehrer relativ gelassen auf sich zukommen lassen. Man wird merken und zu hören bekommen, was los ist. Das Kind wird offen erzählen können oder sich je nach Typ auch nur anmerken lassen, wenn etwas schwierig ist, und: man kann reagieren.
Gibt es Probleme mit den Schnürsenkeln, dem Anspitzer oder dem Schnellhefter, lässt sich immer eine Alternative finden. Auch für das Abputzen auf der Toilette gibt es Hilfsmittel (Feuchttücher für die Hosentasche zum Beispiel), die einem Erstklässler erstmal Sicherheit geben. Gespräche auf dem Schulhof mit obercoolen, „allwissenden“ oder altklugen anderen kann man zu Hause nacherzählen lassen und selbstsichere Antworten oder auch Abgänge probieren – alles ist lösbar. Und: auch die Lehrer sollte man nicht unterschätzen oder schlechtreden, sondern immer erstmal versuchen, sie mit ins Boot zu holen. Die meisten, die ich bisher kennengelernt habe, sind auch nicht glücklich damit, dass sie so wenig Möglichkeiten haben, sich ganz individuell auf jedes Kind einzulassen – und sie sind dankbar über die Hinweise der Eltern zu den persönlichen Bedürfnissen der Kleinen, die es ihnen erleichtern, in der Klasse anzukommen, mitzukommen, Freunde zu finden, sich besser zu konzentrieren; oft sind es nur minmale Dinge, die aber ein Lehrer nicht sehen kann bei 20-30 Kindern. Einmal drauf hingewiesen, klappt es oft für alle Seiten viel besser.
Noch konkreter: Schaut Euer Kind an, wenn Ihr die Fragenkataloge zur Einschulung gelesen habt, und bevor Ihr mit Eurem Kind Dinge thematisiert wie „Oh ja, die Schule kann wirklich gruselig sein… alles fremd und höllisch viel zu lernen…“, schaut doch erstmal, ob EUER Kind überhaupt Angst zeigt? Vielleicht ist gerade das gar nicht sein Thema und man löst die Angst erst aus, weil man fragt. Weil man selbst ungute Erinnerungen hatte. Das muss ja nicht sein! Schaut hin, hört zu, lasst das Kind erzählen, bevor Ihr loslegt. Bremst auch gerne forsche Großeltern oder Nachbarn, die „vom Ernst des Lebens“ reden.
Was sagt denn Euer Kind Euch, wenn es um die Schule geht?
Mag es gar nichts davon wissen? Dann fangt vielleicht auch einfach erst eine Woche vorher langsam an, wie Ihr es bei einem unangenehmen Arzttermin auch tun würdet oder bei einem Krankenhausaufenthalt eines Elternteils – da redet man ja auch nicht schon ein halbes Jahr vorher jeden Tag bereits drüber mit einem Kind, das kaum Zeitvorstellung hat. Kurz vorher, ganz konkret, was steht an. Wir schauen uns den Schulweg an – und was magst Du gerne am Einschulungstag unternehmen? Das reicht dann auch. Wenn Ihr das Bedürfnis habt, mehr zu reden, mehr abzusichern, dann drückt das nicht Eurem Kind auf.
Wichtig bleibt der Blick aufs Kind.
Es mag das Schulgebäude kennenlernen? Guckt es an. Gegebenenfalls auch ruhig zehnmal. Den Schulhof, die Toiletten.
Es wünscht sich eine gekaufte Schultüte mit dem neuesten Disneystar drauf? Ihr fühlt Euch schlecht, weil alle anderen basteln und sicher lästern werden, weil Eure ja gekauft ist? Egal. Kauft sie.
Der Schlafrhythmus passt noch null zum Schulrhythmus? Ihr wollt da gewaltsam dran schrauben und abends Kämpfe ausfechten? Das wird sich ziemlich schnell einstellen; macht es sanft und begleitet, ohne geknallte und verschlossene Türen. Ihr schafft das schon, wenn es soweit ist.
Euer Kind durfte bislang nie mit Fremden mitgehen. Das habt Ihr im eingebläut, und Ihr seid froh, dass es das sehr ernst nimmt. Nun kennt es aber den Lehrer nicht – und soll am ersten Schultag mitgehen? Paradox. Geht zur Schule und sprecht das an. Oft ist kurz vor den Sommerferien ein Schulfest, und wenn es keinen Kennenlerntag gibt, ist das eine gute Gelegenheit, den Lehrer das erste Mal zu treffen. Oder findet eine andere Möglichkeit!
Und so weiter. Was braucht EUER Kind.
Und die Ängste?
Es bleiben die diffusen Ängste. Vor Schule an sich. Vor „dem System“. Vor MOBBING. Vor gemeinen Kindern und fremden Eltern. Vor unfairen Lehrern. Vor dem Raum, wo unsere Kinder ohne unseren Schutz sind. Vor Situationen aus unseren eigenen Erinnerungen. Vor Dingen, die oft mit Schule asoziiert werden.
(…)
Children waiting for the day they feel good
Happy birthday, happy birthday
Made to feel the way that every child should
Sit and listen, sit and listen
Went to school and I was very nervous
No one knew me, no one knew me
Hello, teacher, tell me what’s my lesson
Look right through me, look right through me
And I find it kinda funny
I find it kinda sad
The dreams in which I’m dying
Are the best I’ve ever had
(…)
Diese Zeilen aus „Mad World“ von Gary Jules machen mir immer wieder Bauchweh, weil viele genau solche Gefühle mit Schule verbinden, aber ich glaube, meinen Kinder geht es zum Glück nicht so, obwohl wir sicher nicht DIE Traumschulen für sie ausgewählt haben, die andere AP-Eltern sich wünschen würden. Aber: zum einen haben wir eben die o.g. Erfahrung gemacht, dass die allermeisten Lehrer sehr dankbar sind über jede Offenheit, jede Erklärung zum Verhalten der Kinder und jede Idee zum Umgang damit, und dass viele überaus engagiert und motivierend mit den Kindern umgehen. Und zum anderen bin ich der Meinung, dass Kinder, die bindungs- und beziehungsorientiert aufwachsen, das System Schule gut durchlaufen können. Denn sie haben das wichtigste Rüstzeug, das es braucht – die Nr. 1 & 2 auf der Punkteliste der „Was Ihr Kind vor der Einschulung unbedingt können / wissen sollte“: Empathie und einen starken Rücken.
Kinder, die schon als Kleinkinder und gerade auch im Vorschulalter, wenn mal wieder alles umbricht, innen und außen, Empathie erfahren dürfen, können diese auch leben. Sie spüren, was okay ist und was nicht. Sie sind sozial und geben viel zurück. Sie wehren sich konstruktiv und höflich, aber bestimmt gegen Ungerechtigkeiten. Sie hinterfragen Aufgaben und Bestrafungen, aber erledigen mündig, was sie für sinnvoll erachten.
Kinder, denen man zuhört und offen antwortet, denen man kindgerechte Erklärungen zu allen Belangen liefert, die sie betreffen, fühlen sich kompetent im Umgang mit Gleichaltrigen und Lehrenden. Kinder, denen man Verantwortung überträgt, die Selbstvertrauen entwickeln dürfen und die sich geliebt fühlen, werden selbstsicher und stark. Sie können Entscheidungen treffen, sie können Gruppendruck standhalten, sie können Nein sagen. Sie können Kompromisse finden, diskutieren und helfen.
Ich habe schon viele Kinder erlebt, die anders aufwachsen: mit Strafen, ohne übertragene Verantwortung, ohne Herausforderungen oder mit zu viel übertragener Verantwortung, ohne Nähe, ohne einen Zuhörer, mit Eltern, die sie auslachen, mit Eltern, die nur glauben, was der Lehrer sagt. Kinder, denen suggeriert wird, ihr körperliches Ausleben von Emotionen sei falsch, Wut dürfe überhaupt nicht gezeigt werden, bei denen ständig alles bewertet wird, deren Selbstbild mit 6 Jahren schon abolut negativ ist. Kinder, die dauerhaft kooperieren und funktionieren sollen, mit denen nicht ernsthaft gesprochen, denen nie etwas näher erläutert wird, die nicht hinterfragen dürfen.
Verbundenheit ist anders. Seid attached, seid ganz nah dran an Euren Kindern! Hört ihnen zu, sprecht miteinander. Dann seid Ihr auch in der Schule immer ganz dicht dabei, selbst wenn Ihr nicht dort seid.
IH
Mit meinem Text „Wem die Stunde schlägt… – Was braucht mein (Vor-)Schulkind?“ bewerbe ich mich außerdem für den scoyo ELTERN! Blog Award 2018.
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4 Gedanken zu „Wem die Stunde schlägt… – Was braucht mein (Vor-)Schulkind?“