29 Mai

Vom Abgrenzen und Nähesuchen

Mein Kind und ich hatten einen Streit. Nichts Großes. Man könnte auch eher Meinungsverschiedenheit sagen. Kurz vorm Zubettgehen. Wir diskutierten immer noch, als ich sie ins Bett begleitete, aber eigentlich war alles besprochen. Müde waren wir beide, brauchten Feierabend.

Sie setzte sich auf Ihr Bett, ihre Körpersprache sagte laut und klar: „Ich bin motzig. Ich brauche Abstand. Lass mich!“ Sie zog eine Grenze.

Ich fragte sie, ob ich ihr Gute Nacht sagen dürfe. Eigentlich umarmen wir uns dann, küssen uns, sitzen manchmal noch kurz nebeneinander, reden vielleicht noch ein wenig über den Tag, wünschen uns schöne Träume. Doch nun zeigte sie mir, dass das an diesem Tag nicht möglich war.

Die Grenze

Sie brummelte als Antwort, wirkte abweisend, kühl, ein bisschen traurig. Ich küsste ihr aufs Haar – das war möglich. Wie immer schaltete ich ihr Leselicht ein, die Deckenlampe aus und verließ ihr Zimmer mit einem letzten „Träum was Schönes!“ Dann schloss ich ihre Tür, wie jeden Abend.

Sie blieb auf ihrem Bett sitzen, das konnte ich durch die Milchglastür erkennen. Sie schien sich nicht zu rühren. Vielleicht dachte sie nach, vielleicht war sie immer noch sauer. Das war kein schönes Gefühl, aber ich hatte den Eindruck, von meiner Seite alles angeboten zu haben und nun respektvoll mit ihrer Abgrenzung umzugehen, die sie offensichtlich brauchte und selbst bestimmt hatte.

Ich ging zu unseren anderen beiden Kindern in die Zimmer, sagte ihnen auch Gute Nacht und sprach ein paar Worte, drückte sie nochmal. Dann öffnete ich noch ein paar Fenster, ließ Rollläden herunter, räumte Sachen bei Seite.

 

Die Nähe

Als ich im Flur vor den Kinderzimmern stand und noch einiges in den Wäschesack dort warf, tippte mir plötzlich jemand an den Rücken. Ich drehte mich um und sah mein Kind, das mich anlächelte.

„Darf ich Dich nochmal in den Arm nehmen?“ sagte sie. „Ich war echt sauer für einen Moment, aber jetzt ist es schon wieder weg.“ Natürlich nahmen wir uns in den Arm, küssten uns auch, mussten beide grinsen. Weil es gut tat, weil es schön war. Weil es so ein gutes Gefühl war, dass wir streiten und sauer sein können, ohne dass das irgendwas kaputt macht oder jemanden nachhaltig verletzt.

Am nächsten Tag wollten wir uns nochmal neu besprechen und würden alles lösen können. Das Gefühl hatten wir. Jetzt waren wir einfach zu müde.

Schließlich ging sie zu Bett, und ich nahm die Treppe nach unten mit leichtem Herzen. Zwischen uns war alles gut, wie immer ganz tief unten – egal wie doll es obenauf brodelte.

 

Liebe und Beziehung

Das Geschehene hätte auch genauso gut andersherum passieren können: so dass ich mich abgrenzen muss, eine Pause zum Beruhigen oder Nachdenken brauche, und dann wieder Kontakt, Nähe, vielleicht auch nochmal das Gespräch suche.

Jeder darf das hier, jeder kann das hier gefahrlos. Er selbst sein, Emotionen zeigen, auch Unzufriedenheit, sich abgrenzen und die anderen bitten, ein wenig auf Abstand zu bleiben.

Denn jeder weiß, wenn der innerliche Sturm sich gelegt hat, finden wir wieder zusammen und klären, umarmen, sind für einander da. Weil unsere Beziehung gut ist. Weil unsere Liebe ehrlich ist. Und auch bleibt, wenn der andere sich nicht von seiner Sonnenseite zeigt.

IH

 

Ein Gedanke zu „Vom Abgrenzen und Nähesuchen

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